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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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selbst abhängt; sie sind geneigt, jenes achtungswerthe Streben, Unvermeidliches
gelassen hinzunehmen, mit einer stumpfen Ergebung zu verwechseln, welche
jedem, auch dem zu beseitigenden Uebel gegenüber unthätig bleibt.... Hy¬
gieinischer Untericht ist noch wichtiger, als hygieinische Ge-
setzgebun g."

Natürlich gestaltet sich die Wirksamkeit örtlicher Gesundheitsbehörden zu
einer viel tiefer greifenden, als wenn Alles auf Anregung eines Beamten
oder Mitglieds der Communalvertretung gestellt ist. Wie Angelegenheiten
der öffentlichen Gesundheit oft von Stadtverordneten und Bürgermeistern
behandelt werden, wissen wir ja Alle. Daß der Nutzen localer doaräs ok
Kea-Iet sich aber nicht darauf beschränkt, öffentliche Schädlichkeiten hinwegzu¬
räumen und Einrichtungen für das Gemeinwohl zu schaffen, sondern daß
jene aus Laien verschiedenster Berufsklassen zusammengesetzten Körperschaften
auch in die Familien vernünftige Ansichten über naturgemäße Lebensführung
tragen und schädliche Vorurtheile ausrotten helfen, zeigt sich in der Thatsache
daß nirgends die Gesundheitspflege höher angesehen, weiter ins Privatleben
und ins Volk gedrungen ist, als bei den Briten. Auch gibt es dort selbst
in den größten Städten keine eigentliche Wohnungsnoth; finden sich über¬
füllte oder sonstwie ungesunde Quartiere, so genügt ein Befehl des localen
Gesundheitsamts, um sie zu räumen. Hier böte sich uns also Gelegenheit,
zu lernen, und an Volkskraft zu gewinnen. Wie lange wird es noch dauern,
bis wir im deutschen Reiche so weit sind? Wäre es ein neuer Stoff für
Paletots oder Beinkleider, so wäre die evglisk kaskiou längst auf dem Fest¬
lande heimisch. In New-Uork wurde 1866 ein hauptstädtisches Gesundheits¬
gesetz, N6trojzci1its.ii UsaltK LM, erlassen, welches städtische Aemter einsetzt.
Dort gibt es auch öffentlich aufliegende Bücher, in die Jeder Beschwerden
einschreiben darf.

Noch vor dreißig oder vierzig Jahren war dem Nichtgelehrten das (dem
deutschen Ohre freilich fremd genug klingende) Wort "Hygieine" ebenso
unbekannt, wie die Sache selbst. Was mit "Krankenpflege" gemeint war,
wußte jeder Bauer, wer aber den Ausdruck "Gesundheitspflege" selbst vor
Gebildeten gebraucht hätte, würde entweder stutzige oder spöttische Mienen
zu sehen bekommen haben, als ob er eine Lächerlichkeit gesagt hätte. Hufe-
land's berühmtes Werk war auf die "Verlängerung des Lebens"
gerichtet. Im Vorwort heißt es: "____Man darf die Kunst, das mensch¬
liche Leben zu verlängern (Makrobiotik) nicht mit der gewöhnlichen Medicin
oder medicinischen Diätetik verwechseln. Sie hat andren Zweck, andre Mittel,
andre Grenzen. Der Zweck der Medicin ist Gesundheit, der der Makrobiotik
hingegen langes Leben; die Mittel der Medicin sind nur auf den gegen¬
wärtigen Zustand und dessen Veränderung berechnet (im Jahre 1876 faßt der


selbst abhängt; sie sind geneigt, jenes achtungswerthe Streben, Unvermeidliches
gelassen hinzunehmen, mit einer stumpfen Ergebung zu verwechseln, welche
jedem, auch dem zu beseitigenden Uebel gegenüber unthätig bleibt.... Hy¬
gieinischer Untericht ist noch wichtiger, als hygieinische Ge-
setzgebun g."

Natürlich gestaltet sich die Wirksamkeit örtlicher Gesundheitsbehörden zu
einer viel tiefer greifenden, als wenn Alles auf Anregung eines Beamten
oder Mitglieds der Communalvertretung gestellt ist. Wie Angelegenheiten
der öffentlichen Gesundheit oft von Stadtverordneten und Bürgermeistern
behandelt werden, wissen wir ja Alle. Daß der Nutzen localer doaräs ok
Kea-Iet sich aber nicht darauf beschränkt, öffentliche Schädlichkeiten hinwegzu¬
räumen und Einrichtungen für das Gemeinwohl zu schaffen, sondern daß
jene aus Laien verschiedenster Berufsklassen zusammengesetzten Körperschaften
auch in die Familien vernünftige Ansichten über naturgemäße Lebensführung
tragen und schädliche Vorurtheile ausrotten helfen, zeigt sich in der Thatsache
daß nirgends die Gesundheitspflege höher angesehen, weiter ins Privatleben
und ins Volk gedrungen ist, als bei den Briten. Auch gibt es dort selbst
in den größten Städten keine eigentliche Wohnungsnoth; finden sich über¬
füllte oder sonstwie ungesunde Quartiere, so genügt ein Befehl des localen
Gesundheitsamts, um sie zu räumen. Hier böte sich uns also Gelegenheit,
zu lernen, und an Volkskraft zu gewinnen. Wie lange wird es noch dauern,
bis wir im deutschen Reiche so weit sind? Wäre es ein neuer Stoff für
Paletots oder Beinkleider, so wäre die evglisk kaskiou längst auf dem Fest¬
lande heimisch. In New-Uork wurde 1866 ein hauptstädtisches Gesundheits¬
gesetz, N6trojzci1its.ii UsaltK LM, erlassen, welches städtische Aemter einsetzt.
Dort gibt es auch öffentlich aufliegende Bücher, in die Jeder Beschwerden
einschreiben darf.

Noch vor dreißig oder vierzig Jahren war dem Nichtgelehrten das (dem
deutschen Ohre freilich fremd genug klingende) Wort „Hygieine" ebenso
unbekannt, wie die Sache selbst. Was mit „Krankenpflege" gemeint war,
wußte jeder Bauer, wer aber den Ausdruck „Gesundheitspflege" selbst vor
Gebildeten gebraucht hätte, würde entweder stutzige oder spöttische Mienen
zu sehen bekommen haben, als ob er eine Lächerlichkeit gesagt hätte. Hufe-
land's berühmtes Werk war auf die „Verlängerung des Lebens"
gerichtet. Im Vorwort heißt es: „____Man darf die Kunst, das mensch¬
liche Leben zu verlängern (Makrobiotik) nicht mit der gewöhnlichen Medicin
oder medicinischen Diätetik verwechseln. Sie hat andren Zweck, andre Mittel,
andre Grenzen. Der Zweck der Medicin ist Gesundheit, der der Makrobiotik
hingegen langes Leben; die Mittel der Medicin sind nur auf den gegen¬
wärtigen Zustand und dessen Veränderung berechnet (im Jahre 1876 faßt der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/93>, abgerufen am 22.07.2024.