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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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und wetteifert mit Rom und Madras! Diese wenigen Zahlen sprechen laut
und deutlich genug! --

Sehr beachtenswerth ist ferner, worauf Pettenkofer weiterhin Bezug
nimmt: daß die Sterblichkeit in London noch zu Anfang des Jahrhunderts
größer war, als jetzt in München. Hat nun auch die Wissenschaft noch nicht
genau festgestellt, welche Faktoren zu der günstigen neuen Wendung beige¬
tragen haben, so läßt sich doch gewiß daraus eine tröstliche Zuversicht ent¬
nehmen und zugleich ein Sporn zur Thätigkeit: -- wir erkennen, daß wir
das Ausschlaggebende bei weitem nicht so sehr in unabänderlichen Eigenschaften
der Oertlichkeit Berlins, Münchens :c. zu suchen haben, als in dem, was
die dort wohnenden Menschen thun und lassen.

Ueberhaupt entfaltet jenseits des Kanals und des Oceans das Vereins¬
wesen in politischen, wirthschaftlichen und religiösen Dingen eine alle Ver¬
hältnisse durchdringende und beherrschende Macht. Nicht selten allerdings
nimmt diese Macht eine verderbliche Richtung, solche Verirrungen finden aber
doch früher oder später ihr Correctiv. Wir haben dort eine Anzahl lehrreicher
Beispiele dessen vor Augen, was der sogenannte gemeine Mann vermag,
wenn er nicht Alles von Anderen, der Regierung, der Volksvertretung, der
"Wissenschaft" erwartet, ganz aufgeht in seinen Privatgeschäften und nur für
unfruchtbare Kannegießereien über hohe Politik Sinn hat. Das National¬
vermögen an Kenntnissen zeigt sich in Deutschland zwar größer, als in irgend
einem Laufe der Welt; pochen wir aber nicht darauf, stellen wir lieber ein¬
mal die Frage: welchen Rang unter den drei großen Culturvölkern dürfte
Wohl unser Vaterland einnehmen, wenn es sich nicht handelte um Lesenund¬
schreibenkönnen, überhaupt nicht um Wissen, sondern um Sinn und
Thätigkeit für öffentliche Interessen, angenommen, daß sich die
Durchschnittsquote beziffern ließ? -- Sollten nicht unsre westlichen Nachbar¬
länder auch in diesem immateriellen Besitzthum mehr Reiche und Wohlhabende
aufweisen, als Deutschland? -- Aus England ließe sich eine Reihe der tief¬
greifendsten Verbesserungen aufzählen, die sämmtlich ihren Ursprung der Ini¬
tiative einzelner, der Gesetzgebung und der Verwaltung Fernstehender ver¬
danken. Ein Mann dieses Schlages beginnt seine Thätigkeit im engsten
Kreise, sucht und findet Gesinnungsgenossen, die weiter werben helfen, es
entsteht ein Verein, dem sich Zweigvereine in anderen Orten anschließen, die
Presse tritt dafür und dagegen auf, die Sache gelangt zur Parlamentsver¬
handlung und wird endlich Landesgesetz. Die Unbeugsamkeit der angelsächsischen
Race, ihre stubboi-nnsss, sowie die Gewöhnung, nicht von oben her für sich
sorgen zu lassen, kommt ihr hier trefflich zu Statten, während in Deutschland
eine falsche Anwendung des Satzes "was deines Amts nicht ist, da laß deinen


und wetteifert mit Rom und Madras! Diese wenigen Zahlen sprechen laut
und deutlich genug! —

Sehr beachtenswerth ist ferner, worauf Pettenkofer weiterhin Bezug
nimmt: daß die Sterblichkeit in London noch zu Anfang des Jahrhunderts
größer war, als jetzt in München. Hat nun auch die Wissenschaft noch nicht
genau festgestellt, welche Faktoren zu der günstigen neuen Wendung beige¬
tragen haben, so läßt sich doch gewiß daraus eine tröstliche Zuversicht ent¬
nehmen und zugleich ein Sporn zur Thätigkeit: — wir erkennen, daß wir
das Ausschlaggebende bei weitem nicht so sehr in unabänderlichen Eigenschaften
der Oertlichkeit Berlins, Münchens :c. zu suchen haben, als in dem, was
die dort wohnenden Menschen thun und lassen.

Ueberhaupt entfaltet jenseits des Kanals und des Oceans das Vereins¬
wesen in politischen, wirthschaftlichen und religiösen Dingen eine alle Ver¬
hältnisse durchdringende und beherrschende Macht. Nicht selten allerdings
nimmt diese Macht eine verderbliche Richtung, solche Verirrungen finden aber
doch früher oder später ihr Correctiv. Wir haben dort eine Anzahl lehrreicher
Beispiele dessen vor Augen, was der sogenannte gemeine Mann vermag,
wenn er nicht Alles von Anderen, der Regierung, der Volksvertretung, der
„Wissenschaft" erwartet, ganz aufgeht in seinen Privatgeschäften und nur für
unfruchtbare Kannegießereien über hohe Politik Sinn hat. Das National¬
vermögen an Kenntnissen zeigt sich in Deutschland zwar größer, als in irgend
einem Laufe der Welt; pochen wir aber nicht darauf, stellen wir lieber ein¬
mal die Frage: welchen Rang unter den drei großen Culturvölkern dürfte
Wohl unser Vaterland einnehmen, wenn es sich nicht handelte um Lesenund¬
schreibenkönnen, überhaupt nicht um Wissen, sondern um Sinn und
Thätigkeit für öffentliche Interessen, angenommen, daß sich die
Durchschnittsquote beziffern ließ? — Sollten nicht unsre westlichen Nachbar¬
länder auch in diesem immateriellen Besitzthum mehr Reiche und Wohlhabende
aufweisen, als Deutschland? — Aus England ließe sich eine Reihe der tief¬
greifendsten Verbesserungen aufzählen, die sämmtlich ihren Ursprung der Ini¬
tiative einzelner, der Gesetzgebung und der Verwaltung Fernstehender ver¬
danken. Ein Mann dieses Schlages beginnt seine Thätigkeit im engsten
Kreise, sucht und findet Gesinnungsgenossen, die weiter werben helfen, es
entsteht ein Verein, dem sich Zweigvereine in anderen Orten anschließen, die
Presse tritt dafür und dagegen auf, die Sache gelangt zur Parlamentsver¬
handlung und wird endlich Landesgesetz. Die Unbeugsamkeit der angelsächsischen
Race, ihre stubboi-nnsss, sowie die Gewöhnung, nicht von oben her für sich
sorgen zu lassen, kommt ihr hier trefflich zu Statten, während in Deutschland
eine falsche Anwendung des Satzes „was deines Amts nicht ist, da laß deinen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/91>, abgerufen am 22.07.2024.