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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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insofern es bis zu einem gewissen Grade wenigstens ein Ausdruck der am
Gymnasium herrschenden Strebungen und Anschauungen ist, und so gewinnt
es auch eine gewisse Bedeutung für die unsre Zeit so lebhaft bewegende
Frage über die Reform unsrer höheren Bildungsanstalten. Als ein erfreuliches
Symptom kann es gelten, daß neben all den nichtsnutzigen Mi>.est,i0N<Z8 und
observationes und neben all dem pädagogischen Plunder ein Fach wie die
vaterländische Geschichte und Culturgeschichte wenigstens durch die nächsthöchste
Ziffer in dem Verzeichnis repräsentirt ist. Bei näherem Zusehen gewahrt man
freilich, daß die Hälfte aller hierhergehörigen Programme bloße Beiträge zur
Localgeschichte der Stadt, in welcher sich das betreffende Gymnasium befindet,
oder gar bloß zur Schulgeschichte sind. Allein derartige Arbeiten sind keines¬
wegs zu unterschätzen, sie bringen manchmal werthvolles kulturgeschichtliches
Material ans Licht, und es ist nur zu bedauern, daß sie eben nicht lieber in
einer historischen Zeitschrift, deren es jetzt ja zahlreiche namentlich auch für
die Localforschung giebt, zum Abdrucke gelangen. Auch sonst werden uns
voraussichtlich werthvolle Arbeiten auf verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten
geboten werden. Einzelne Autoren werden auch, wie zum Beweise, daß
es am Gymnasium auch Leute giebt, die nicht im Schütte der Vergangenheit
wühlen, sondern Verständniß für die Interessen unsrer Zeit haben, uns "zeit¬
gemäße" Themata vorführen, wie "Studien über Bosnien und die Herzegowina",
"Die moderne Meteorologie und die Vorausbestimmung des Wetters", "Die
Bedeutung der Statistik für die Ethik", "Immanuel Kant und die deutsche
Nationalerziehung". Was soll man aber dazu sagen, wenn unter 269 Gym^
nasialprogrammen sich 3 --sage drei! -- auf deutsche Literaturgeschichte
beziehen? Man wende nicht ein, die niedrige Ziffer sei Zufall; nein, sie ent¬
spricht vollständig den Anschauungen, die bis in die jüngste Zeit herein an
unsern Universitäten wie an unsern Gymnasien die herrschenden waren und zum
großen Theil noch immer die herrschenden sind. Es ist etwas ganz Gewöhn¬
liches, daß der Unterricht in der deutschen Sprache und Literatur am Gym¬
nasium über die Achsel angesehen wird. Einen gedankenarmen lateinischen
Aufsatz aus elenden Floskeln zusammenzustöppeln, die bei der Lectüre der
lateinischen Schriftsteller aufgeschnappt worden sind, das gilt für etwas; aber
einen gescheidten Aufsatz in gutem Deutsch zu schreiben, das gilt für nichts.
Es giebt gelehrte Herren, die es für unter ihrer Würde halten würden, sich
um das wirkliche Verständniß eines Goethe'schen Schauspiels zu bemühen --
was ist daran auch weiter zu verstehen? ist es nicht deutsch? versteht das nicht
jedes Kind? -- die es aber nicht für unter ihrer Würde halten würden,
abzuzählen, wie oft in den Catilinarischen Reden die Conjunctiv" quom --
und der echte Philolog kennt ja nur "mon, bei Leibe nicht quum! -- mit
Indicativ oder Conjunctiv verbunden ist. Was soll man ferner dazu sagen,


insofern es bis zu einem gewissen Grade wenigstens ein Ausdruck der am
Gymnasium herrschenden Strebungen und Anschauungen ist, und so gewinnt
es auch eine gewisse Bedeutung für die unsre Zeit so lebhaft bewegende
Frage über die Reform unsrer höheren Bildungsanstalten. Als ein erfreuliches
Symptom kann es gelten, daß neben all den nichtsnutzigen Mi>.est,i0N<Z8 und
observationes und neben all dem pädagogischen Plunder ein Fach wie die
vaterländische Geschichte und Culturgeschichte wenigstens durch die nächsthöchste
Ziffer in dem Verzeichnis repräsentirt ist. Bei näherem Zusehen gewahrt man
freilich, daß die Hälfte aller hierhergehörigen Programme bloße Beiträge zur
Localgeschichte der Stadt, in welcher sich das betreffende Gymnasium befindet,
oder gar bloß zur Schulgeschichte sind. Allein derartige Arbeiten sind keines¬
wegs zu unterschätzen, sie bringen manchmal werthvolles kulturgeschichtliches
Material ans Licht, und es ist nur zu bedauern, daß sie eben nicht lieber in
einer historischen Zeitschrift, deren es jetzt ja zahlreiche namentlich auch für
die Localforschung giebt, zum Abdrucke gelangen. Auch sonst werden uns
voraussichtlich werthvolle Arbeiten auf verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten
geboten werden. Einzelne Autoren werden auch, wie zum Beweise, daß
es am Gymnasium auch Leute giebt, die nicht im Schütte der Vergangenheit
wühlen, sondern Verständniß für die Interessen unsrer Zeit haben, uns „zeit¬
gemäße" Themata vorführen, wie „Studien über Bosnien und die Herzegowina",
„Die moderne Meteorologie und die Vorausbestimmung des Wetters", „Die
Bedeutung der Statistik für die Ethik", „Immanuel Kant und die deutsche
Nationalerziehung". Was soll man aber dazu sagen, wenn unter 269 Gym^
nasialprogrammen sich 3 —sage drei! — auf deutsche Literaturgeschichte
beziehen? Man wende nicht ein, die niedrige Ziffer sei Zufall; nein, sie ent¬
spricht vollständig den Anschauungen, die bis in die jüngste Zeit herein an
unsern Universitäten wie an unsern Gymnasien die herrschenden waren und zum
großen Theil noch immer die herrschenden sind. Es ist etwas ganz Gewöhn¬
liches, daß der Unterricht in der deutschen Sprache und Literatur am Gym¬
nasium über die Achsel angesehen wird. Einen gedankenarmen lateinischen
Aufsatz aus elenden Floskeln zusammenzustöppeln, die bei der Lectüre der
lateinischen Schriftsteller aufgeschnappt worden sind, das gilt für etwas; aber
einen gescheidten Aufsatz in gutem Deutsch zu schreiben, das gilt für nichts.
Es giebt gelehrte Herren, die es für unter ihrer Würde halten würden, sich
um das wirkliche Verständniß eines Goethe'schen Schauspiels zu bemühen —
was ist daran auch weiter zu verstehen? ist es nicht deutsch? versteht das nicht
jedes Kind? — die es aber nicht für unter ihrer Würde halten würden,
abzuzählen, wie oft in den Catilinarischen Reden die Conjunctiv» quom —
und der echte Philolog kennt ja nur «mon, bei Leibe nicht quum! — mit
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/70>, abgerufen am 02.10.2024.