Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

wegen Unterschlagung gepfändeter Gegenstände bestraft wurde. Es ist gut,
daß so die Wahrheit an den Tag kommt.

Noch interessanter war eine neuliche Verhandlung vor dem Zuchtpolizei¬
gericht zu Straßburg, in der nicht weniger als 20 Jungfrauen aus dem
Dorfe Matzenheim sich wegen der Anklage zu verantworten hatten, in der
Pfarrkirche daselbst durch allzulautes Beten den öffentlichen Gottesdienst ge¬
stört zu haben. Das hatte einen sehr bezeichnenden Grund. Der Pfarrer
von Matzenheim, ein etwas jugendlicher Heißsporn, hatte sich durch eine
Predigt über allerlei Sachen, die des Kaisers und des Staates sind, die
ersten Sporen und einige Wochen Festung verdient. Hauptbelastungszeuge
war, wie gewöhnlich in Kanzel-Paragraph-Prozessen, der Schulmeister gewesen,
der zugleich als Küster und Organist fungirt. Die Lehrer fühlen sich nicht
wenig seit der neuen Schulordnung den Pfarrern gegenüber, die sie früher
wohl ab und zu tyrannisirt haben mögen.

Um nun ihrer Anhänglichkeit an den eingesperrten Pfarrherrn und
ihrer Antipathie gegen den "falschen Judas", den Schulmeister, öffentlich Luft
zu machen, hatten die sämmtlichen Dorfschönen sich verschworen und einen
von echt weiblicher List und Rachsucht zeugenden Plan erfunden und ausge¬
führt. Allemal, wenn der Lehrer auf der Orgel einen Cantus anstimmte,
fingen sie an, den Rosenkranz vom bittern Leiden Christi zu beten und zwar
so laut und melodisch, daß sie in der Regel die Orgel überstimmten. Nun
weiß ja männiglich, was sich durch betende Weiber Alles erreichen läßt.
Man braucht dazu nicht nach Amerika zu gehen und an die "Betseuche" zu
erinnern. Kann man doch mit dem Gebet, nach Herrn v. Ketteler, sogar dem
lieben Herrgott im Himmel Gewalt anthun, wie vielmehr einen Schulmeister
und feinfühlenden Organisten ärgern bis "zum aus der Haut Springen". Als
dem Mann die Sache zu arg wurde und er sich allein nicht mehr zu helfen
wußte gegen die betenden, himmelstürmenden Jungfrauen von Matzenheim,
wandte er sich an den Staatsprocurator und die Gerichte. Und die Richter
waren grausam genug, die armen frommen Mädchen, mit Ausnahme der
jüngsten, die man wegen ihres Alters schonen wollte, zu je 1--8 Tagen
Gefängniß zu verurtheilen. So geht es in der Welt.

Es fehlt bloß noch, daß nächstens irgend ein Bischof oder Pastor, ähn¬
lich dem Bischöfe von Lüttich, den Maire oder Kreisdirector auf einen
Schadenersatz von 5000 Franken im Wege der Civilklage belangt, weil er
eine Prozession oder sonstige heilsame kirchliche Uebung unmorivirt untersagt
hat. So etwas ist allerdings eher möglich in Belgien und der Rheinprovinz,
als in dem weniger klerikalen Elsaß.

Die Discussion über die Straßburger Stadterweiterung ist jetzt in ein
gemäßigteres Stadium getreten. Ein Straßburger Bürger behandelt dieselbe


wegen Unterschlagung gepfändeter Gegenstände bestraft wurde. Es ist gut,
daß so die Wahrheit an den Tag kommt.

Noch interessanter war eine neuliche Verhandlung vor dem Zuchtpolizei¬
gericht zu Straßburg, in der nicht weniger als 20 Jungfrauen aus dem
Dorfe Matzenheim sich wegen der Anklage zu verantworten hatten, in der
Pfarrkirche daselbst durch allzulautes Beten den öffentlichen Gottesdienst ge¬
stört zu haben. Das hatte einen sehr bezeichnenden Grund. Der Pfarrer
von Matzenheim, ein etwas jugendlicher Heißsporn, hatte sich durch eine
Predigt über allerlei Sachen, die des Kaisers und des Staates sind, die
ersten Sporen und einige Wochen Festung verdient. Hauptbelastungszeuge
war, wie gewöhnlich in Kanzel-Paragraph-Prozessen, der Schulmeister gewesen,
der zugleich als Küster und Organist fungirt. Die Lehrer fühlen sich nicht
wenig seit der neuen Schulordnung den Pfarrern gegenüber, die sie früher
wohl ab und zu tyrannisirt haben mögen.

Um nun ihrer Anhänglichkeit an den eingesperrten Pfarrherrn und
ihrer Antipathie gegen den „falschen Judas", den Schulmeister, öffentlich Luft
zu machen, hatten die sämmtlichen Dorfschönen sich verschworen und einen
von echt weiblicher List und Rachsucht zeugenden Plan erfunden und ausge¬
führt. Allemal, wenn der Lehrer auf der Orgel einen Cantus anstimmte,
fingen sie an, den Rosenkranz vom bittern Leiden Christi zu beten und zwar
so laut und melodisch, daß sie in der Regel die Orgel überstimmten. Nun
weiß ja männiglich, was sich durch betende Weiber Alles erreichen läßt.
Man braucht dazu nicht nach Amerika zu gehen und an die „Betseuche" zu
erinnern. Kann man doch mit dem Gebet, nach Herrn v. Ketteler, sogar dem
lieben Herrgott im Himmel Gewalt anthun, wie vielmehr einen Schulmeister
und feinfühlenden Organisten ärgern bis „zum aus der Haut Springen". Als
dem Mann die Sache zu arg wurde und er sich allein nicht mehr zu helfen
wußte gegen die betenden, himmelstürmenden Jungfrauen von Matzenheim,
wandte er sich an den Staatsprocurator und die Gerichte. Und die Richter
waren grausam genug, die armen frommen Mädchen, mit Ausnahme der
jüngsten, die man wegen ihres Alters schonen wollte, zu je 1—8 Tagen
Gefängniß zu verurtheilen. So geht es in der Welt.

Es fehlt bloß noch, daß nächstens irgend ein Bischof oder Pastor, ähn¬
lich dem Bischöfe von Lüttich, den Maire oder Kreisdirector auf einen
Schadenersatz von 5000 Franken im Wege der Civilklage belangt, weil er
eine Prozession oder sonstige heilsame kirchliche Uebung unmorivirt untersagt
hat. So etwas ist allerdings eher möglich in Belgien und der Rheinprovinz,
als in dem weniger klerikalen Elsaß.

Die Discussion über die Straßburger Stadterweiterung ist jetzt in ein
gemäßigteres Stadium getreten. Ein Straßburger Bürger behandelt dieselbe


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0519" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/135572"/>
          <p xml:id="ID_1577" prev="#ID_1576"> wegen Unterschlagung gepfändeter Gegenstände bestraft wurde. Es ist gut,<lb/>
daß so die Wahrheit an den Tag kommt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1578"> Noch interessanter war eine neuliche Verhandlung vor dem Zuchtpolizei¬<lb/>
gericht zu Straßburg, in der nicht weniger als 20 Jungfrauen aus dem<lb/>
Dorfe Matzenheim sich wegen der Anklage zu verantworten hatten, in der<lb/>
Pfarrkirche daselbst durch allzulautes Beten den öffentlichen Gottesdienst ge¬<lb/>
stört zu haben. Das hatte einen sehr bezeichnenden Grund. Der Pfarrer<lb/>
von Matzenheim, ein etwas jugendlicher Heißsporn, hatte sich durch eine<lb/>
Predigt über allerlei Sachen, die des Kaisers und des Staates sind, die<lb/>
ersten Sporen und einige Wochen Festung verdient. Hauptbelastungszeuge<lb/>
war, wie gewöhnlich in Kanzel-Paragraph-Prozessen, der Schulmeister gewesen,<lb/>
der zugleich als Küster und Organist fungirt. Die Lehrer fühlen sich nicht<lb/>
wenig seit der neuen Schulordnung den Pfarrern gegenüber, die sie früher<lb/>
wohl ab und zu tyrannisirt haben mögen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1579"> Um nun ihrer Anhänglichkeit an den eingesperrten Pfarrherrn und<lb/>
ihrer Antipathie gegen den &#x201E;falschen Judas", den Schulmeister, öffentlich Luft<lb/>
zu machen, hatten die sämmtlichen Dorfschönen sich verschworen und einen<lb/>
von echt weiblicher List und Rachsucht zeugenden Plan erfunden und ausge¬<lb/>
führt. Allemal, wenn der Lehrer auf der Orgel einen Cantus anstimmte,<lb/>
fingen sie an, den Rosenkranz vom bittern Leiden Christi zu beten und zwar<lb/>
so laut und melodisch, daß sie in der Regel die Orgel überstimmten. Nun<lb/>
weiß ja männiglich, was sich durch betende Weiber Alles erreichen läßt.<lb/>
Man braucht dazu nicht nach Amerika zu gehen und an die &#x201E;Betseuche" zu<lb/>
erinnern. Kann man doch mit dem Gebet, nach Herrn v. Ketteler, sogar dem<lb/>
lieben Herrgott im Himmel Gewalt anthun, wie vielmehr einen Schulmeister<lb/>
und feinfühlenden Organisten ärgern bis &#x201E;zum aus der Haut Springen". Als<lb/>
dem Mann die Sache zu arg wurde und er sich allein nicht mehr zu helfen<lb/>
wußte gegen die betenden, himmelstürmenden Jungfrauen von Matzenheim,<lb/>
wandte er sich an den Staatsprocurator und die Gerichte. Und die Richter<lb/>
waren grausam genug, die armen frommen Mädchen, mit Ausnahme der<lb/>
jüngsten, die man wegen ihres Alters schonen wollte, zu je 1&#x2014;8 Tagen<lb/>
Gefängniß zu verurtheilen.  So geht es in der Welt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1580"> Es fehlt bloß noch, daß nächstens irgend ein Bischof oder Pastor, ähn¬<lb/>
lich dem Bischöfe von Lüttich, den Maire oder Kreisdirector auf einen<lb/>
Schadenersatz von 5000 Franken im Wege der Civilklage belangt, weil er<lb/>
eine Prozession oder sonstige heilsame kirchliche Uebung unmorivirt untersagt<lb/>
hat. So etwas ist allerdings eher möglich in Belgien und der Rheinprovinz,<lb/>
als in dem weniger klerikalen Elsaß.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1581" next="#ID_1582"> Die Discussion über die Straßburger Stadterweiterung ist jetzt in ein<lb/>
gemäßigteres Stadium getreten.  Ein Straßburger Bürger behandelt dieselbe</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0519] wegen Unterschlagung gepfändeter Gegenstände bestraft wurde. Es ist gut, daß so die Wahrheit an den Tag kommt. Noch interessanter war eine neuliche Verhandlung vor dem Zuchtpolizei¬ gericht zu Straßburg, in der nicht weniger als 20 Jungfrauen aus dem Dorfe Matzenheim sich wegen der Anklage zu verantworten hatten, in der Pfarrkirche daselbst durch allzulautes Beten den öffentlichen Gottesdienst ge¬ stört zu haben. Das hatte einen sehr bezeichnenden Grund. Der Pfarrer von Matzenheim, ein etwas jugendlicher Heißsporn, hatte sich durch eine Predigt über allerlei Sachen, die des Kaisers und des Staates sind, die ersten Sporen und einige Wochen Festung verdient. Hauptbelastungszeuge war, wie gewöhnlich in Kanzel-Paragraph-Prozessen, der Schulmeister gewesen, der zugleich als Küster und Organist fungirt. Die Lehrer fühlen sich nicht wenig seit der neuen Schulordnung den Pfarrern gegenüber, die sie früher wohl ab und zu tyrannisirt haben mögen. Um nun ihrer Anhänglichkeit an den eingesperrten Pfarrherrn und ihrer Antipathie gegen den „falschen Judas", den Schulmeister, öffentlich Luft zu machen, hatten die sämmtlichen Dorfschönen sich verschworen und einen von echt weiblicher List und Rachsucht zeugenden Plan erfunden und ausge¬ führt. Allemal, wenn der Lehrer auf der Orgel einen Cantus anstimmte, fingen sie an, den Rosenkranz vom bittern Leiden Christi zu beten und zwar so laut und melodisch, daß sie in der Regel die Orgel überstimmten. Nun weiß ja männiglich, was sich durch betende Weiber Alles erreichen läßt. Man braucht dazu nicht nach Amerika zu gehen und an die „Betseuche" zu erinnern. Kann man doch mit dem Gebet, nach Herrn v. Ketteler, sogar dem lieben Herrgott im Himmel Gewalt anthun, wie vielmehr einen Schulmeister und feinfühlenden Organisten ärgern bis „zum aus der Haut Springen". Als dem Mann die Sache zu arg wurde und er sich allein nicht mehr zu helfen wußte gegen die betenden, himmelstürmenden Jungfrauen von Matzenheim, wandte er sich an den Staatsprocurator und die Gerichte. Und die Richter waren grausam genug, die armen frommen Mädchen, mit Ausnahme der jüngsten, die man wegen ihres Alters schonen wollte, zu je 1—8 Tagen Gefängniß zu verurtheilen. So geht es in der Welt. Es fehlt bloß noch, daß nächstens irgend ein Bischof oder Pastor, ähn¬ lich dem Bischöfe von Lüttich, den Maire oder Kreisdirector auf einen Schadenersatz von 5000 Franken im Wege der Civilklage belangt, weil er eine Prozession oder sonstige heilsame kirchliche Uebung unmorivirt untersagt hat. So etwas ist allerdings eher möglich in Belgien und der Rheinprovinz, als in dem weniger klerikalen Elsaß. Die Discussion über die Straßburger Stadterweiterung ist jetzt in ein gemäßigteres Stadium getreten. Ein Straßburger Bürger behandelt dieselbe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/519
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/519>, abgerufen am 22.07.2024.