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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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seinerseits wird wissen, daß nicht jede Lehrfassung, die ihm augenblicklich am
meisten zusagt, beanspruchen kann, zum kirchlichen Typus zu werden. Er
wird um solcher abweichenden Fassung willen sich nicht von dem Segen der
großen Gemeinschaft trennen. Ist es denn in Schule und Wissenschaft
anders? Die Freiheit der Forschung ist anerkannt, aber nicht jede Ansicht,
die einem Forscher sich ergiebt, wird recipirt. Darum scheidet der Forscher
noch nicht aus einem engeren wissenschaftlichen Lehrkörper aus und noch
weniger aus der großen Gemeinschaft der wissenschaftlichen Forschung. Per¬
sönlich ist ihm unbenommen, festzuhalten, was er für richtig hält. Aber
wenn er damit keinen Anklang gefunden, schweigt er davon und folgt dem
allgemeinen Gang, so gut er kann.

Eine recht unüberlegte Aeußerung desselben Redners war es, als er den
Abg. Miquel einen Experimentalpolitiker nannte, weil derselbe die neue Kirchen¬
verfassung als einen Versuch bezeichnet hatte. Wo ist denn, so lange die
Welt steht, eine menschliche Einrichtung neu getroffen worden, deren Wir¬
kung mit absoluter Sicherheit vorausgesehen werden konnte? -- Auf diesen
Gegner folgte ein Fürsprecher der Vorlage, wiederum in der Person eines
evangelischen Geistlichen der Abg. Tübet. Dieser Redner hob besonders den
Segen der freieren Bewegung hervor, welchen die neue Verfassung der Kirche
bringen werde.

Der vorletzte Redner des Tages war der Abgeordnete Hänel. Derselbe
wollte so sprechen, daß Niemand seinen religiösen Standpunkt erkennen könne.
Das ist ihm aber wenig gelungen. Er sprach im Sinne Virchow's und be¬
kämpfte in erster Linie den landesherrlichen Summepiscopat. Er berief sich
zum Zeichen, daß derselbe eine bloße Theorie sei, sogar auf das allgemeine
Landrecht. Dieser gelehrte Abgeordnete, der das hervorragende Mitglied einer
juristischen Facultät ist, lieferte ein schlagendes Beispiel von den Folgen der
wissenschaftlichen Arbeitsthetlung, wie sie heute herrscht. Er ist allerdings
nicht Lehrer des Kirchenrechts; dies hinderte ihn nicht vom Kirchenrecht zu
sprechen, aber wie ein Blinder von der Farbe. Das Landrecht ist, wie jeder
Kundige weiß, allerdings nicht mehr auf die kirchenrechtliche Theorie des
Episcopalsystems gebaut, sondern auf die Theorie des sogenannten Territorial¬
systems. Nach diesem System leitet und versorgt der Staat alle äußeren
Angelegenheiten der Kirchen auf seinem Gebiet, aber unter Beachtung ihres
Glaubens und durch Organe, welche diesem Glauben nicht fremd sind. Der
Landesherr als solcher gehört nach dieser Theorie keiner Kirche an. So ist in
Sachsen die evangelische Kirche durch den katholischen Landesherrn regiert
worden mittelst des Organes der in kvanZeliois beauftragten Staatsminister.
Aber die Theorie des Territorialsystems hat nicht überall die Praxis des
Kirchenregiments beherrscht und nicht überall die Theorie des Episcopalsystems


seinerseits wird wissen, daß nicht jede Lehrfassung, die ihm augenblicklich am
meisten zusagt, beanspruchen kann, zum kirchlichen Typus zu werden. Er
wird um solcher abweichenden Fassung willen sich nicht von dem Segen der
großen Gemeinschaft trennen. Ist es denn in Schule und Wissenschaft
anders? Die Freiheit der Forschung ist anerkannt, aber nicht jede Ansicht,
die einem Forscher sich ergiebt, wird recipirt. Darum scheidet der Forscher
noch nicht aus einem engeren wissenschaftlichen Lehrkörper aus und noch
weniger aus der großen Gemeinschaft der wissenschaftlichen Forschung. Per¬
sönlich ist ihm unbenommen, festzuhalten, was er für richtig hält. Aber
wenn er damit keinen Anklang gefunden, schweigt er davon und folgt dem
allgemeinen Gang, so gut er kann.

Eine recht unüberlegte Aeußerung desselben Redners war es, als er den
Abg. Miquel einen Experimentalpolitiker nannte, weil derselbe die neue Kirchen¬
verfassung als einen Versuch bezeichnet hatte. Wo ist denn, so lange die
Welt steht, eine menschliche Einrichtung neu getroffen worden, deren Wir¬
kung mit absoluter Sicherheit vorausgesehen werden konnte? — Auf diesen
Gegner folgte ein Fürsprecher der Vorlage, wiederum in der Person eines
evangelischen Geistlichen der Abg. Tübet. Dieser Redner hob besonders den
Segen der freieren Bewegung hervor, welchen die neue Verfassung der Kirche
bringen werde.

Der vorletzte Redner des Tages war der Abgeordnete Hänel. Derselbe
wollte so sprechen, daß Niemand seinen religiösen Standpunkt erkennen könne.
Das ist ihm aber wenig gelungen. Er sprach im Sinne Virchow's und be¬
kämpfte in erster Linie den landesherrlichen Summepiscopat. Er berief sich
zum Zeichen, daß derselbe eine bloße Theorie sei, sogar auf das allgemeine
Landrecht. Dieser gelehrte Abgeordnete, der das hervorragende Mitglied einer
juristischen Facultät ist, lieferte ein schlagendes Beispiel von den Folgen der
wissenschaftlichen Arbeitsthetlung, wie sie heute herrscht. Er ist allerdings
nicht Lehrer des Kirchenrechts; dies hinderte ihn nicht vom Kirchenrecht zu
sprechen, aber wie ein Blinder von der Farbe. Das Landrecht ist, wie jeder
Kundige weiß, allerdings nicht mehr auf die kirchenrechtliche Theorie des
Episcopalsystems gebaut, sondern auf die Theorie des sogenannten Territorial¬
systems. Nach diesem System leitet und versorgt der Staat alle äußeren
Angelegenheiten der Kirchen auf seinem Gebiet, aber unter Beachtung ihres
Glaubens und durch Organe, welche diesem Glauben nicht fremd sind. Der
Landesherr als solcher gehört nach dieser Theorie keiner Kirche an. So ist in
Sachsen die evangelische Kirche durch den katholischen Landesherrn regiert
worden mittelst des Organes der in kvanZeliois beauftragten Staatsminister.
Aber die Theorie des Territorialsystems hat nicht überall die Praxis des
Kirchenregiments beherrscht und nicht überall die Theorie des Episcopalsystems


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/437>, abgerufen am 22.07.2024.