Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.Wir aber mußten an das Sprichwort vom Vogel und vom Neste denken. Es folgte nunmehr als Gegner der Vorlage der Abg. v. Saucken-Tar- Bei einiger Consequenz hätte der Redner sich sagen müssen, daß darnach Wir aber mußten an das Sprichwort vom Vogel und vom Neste denken. Es folgte nunmehr als Gegner der Vorlage der Abg. v. Saucken-Tar- Bei einiger Consequenz hätte der Redner sich sagen müssen, daß darnach <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0436" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/135489"/> <p xml:id="ID_1344" prev="#ID_1343"> Wir aber mußten an das Sprichwort vom Vogel und vom Neste denken.<lb/> Die Krone setzte der Redner seinen Taktlosigkeiten auf, als er ganz unnöthig<lb/> das Centrum apostrophirte, dessen Mitglieder wie am ersten Tage in achtungs¬<lb/> vollen Schweigen einer Verhandlung gefolgt waren, deren Gegenstand sie als<lb/> ein Jnternum der evangelischen Kirche betrachteten.</p><lb/> <p xml:id="ID_1345"> Es folgte nunmehr als Gegner der Vorlage der Abg. v. Saucken-Tar-<lb/> putschen, diesmal ein wirklicher Gegner. Er suchte die Ausführungen des<lb/> Abg. Vtrchow, den Herr v. Saucken als seinen Meister zu verehren scheint,<lb/> mit neuen Gründen zu stützen, da der befremdliche Eindruck dieser Aus¬<lb/> führungen sich wohl ebenso in dem Hause als außer dem Hause bemerklich<lb/> gemacht hatte. Herr v. Saucken brachte in der That den Grundgedanken<lb/> Virchow's aus die klarste Formel, bei der aber auch die Falschheit des Ge¬<lb/> dankens sofort in die Augen springt. Herr v. Saucken sagte: nach seiner Logik<lb/> gebe es in Sachen des Glaubens nur zwei Principien: Autorität oder Indi¬<lb/> vidualität. Ein drittes Princip, Majorität, könne es in äußeren Dingen<lb/> geben, aber nicht in inneren. Indem die neue Kirchenverfassung das Majo¬<lb/> ritätsprincip in Glaubensdingen einführen wolle, sei sie inconsequent und ver¬<lb/> werflich.</p><lb/> <p xml:id="ID_1346" next="#ID_1347"> Bei einiger Consequenz hätte der Redner sich sagen müssen, daß darnach<lb/> sein Meister Virchow immer noch ein großer Reaktionär in kirchlichen Dingen<lb/> ist. Denn wenn in Glaubensdingen nur das Jndividualitätsprinetp zulässig,<lb/> so muß jeder Mensch seinen Glauben für sich haben und schon die kleinste<lb/> Gemeinde führt zum Glaubenszwang. Das wahre Verhältniß ist doch aber<lb/> dieses, daß zwar die evangelische Kirche nicht beanspruchen darf und niemals<lb/> beansprucht hat, dem Einzelnen die innere Glaubensthat abzunehmen, daß sie<lb/> aber beansprucht und zu beanspruchen verpflichtet ist, die größtmögliche<lb/> Gemeinschaft der Lehre und der äußeren Kirchengestaltung. Die Lehre ist<lb/> nicht der Glaube, sondern das Mittel des Glaubens. Behaupten, daß die<lb/> Menschen sich im Glauben nicht zusammenfinden könnten, heißt behaupten,<lb/> daß sie sich nicht in der Wahrheit zusammenfinden können, was vielmehr das<lb/> erhabenste Ziel der Menschheit ist. Das Mittel dieses Zusammenfindens ist<lb/> die Gemeinschaft der Lehre. Und die Freiheit der eigenen Glaubensthat auf<lb/> einem gemeinsamen Lehrgrund ist in einer großen Gemeinschaft weit besser<lb/> verbürgt, als in einer kleinen souveränen Gemeinde. In der letzteren macht<lb/> sich zufälliges subjectives Wesen sofort aufdringlich breit. Nun kann es<lb/> allerdings vorkommen, daß die Lehrentwickelung einer großen kirchlichen Ge¬<lb/> meinschaft bald hier bald dort nicht Schritt hält mit den geistlichen Theo¬<lb/> remen, welche der Einzelne sich bildet oder sich bilden möchte. Aber die<lb/> evangelische Lehrentwickelung übt ja keinen Gewissenszwang, sie macht aus<lb/> abweichenden Lehrmeinungen keine Ketzerei, die verflucht wird. Der Einzelne</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0436]
Wir aber mußten an das Sprichwort vom Vogel und vom Neste denken.
Die Krone setzte der Redner seinen Taktlosigkeiten auf, als er ganz unnöthig
das Centrum apostrophirte, dessen Mitglieder wie am ersten Tage in achtungs¬
vollen Schweigen einer Verhandlung gefolgt waren, deren Gegenstand sie als
ein Jnternum der evangelischen Kirche betrachteten.
Es folgte nunmehr als Gegner der Vorlage der Abg. v. Saucken-Tar-
putschen, diesmal ein wirklicher Gegner. Er suchte die Ausführungen des
Abg. Vtrchow, den Herr v. Saucken als seinen Meister zu verehren scheint,
mit neuen Gründen zu stützen, da der befremdliche Eindruck dieser Aus¬
führungen sich wohl ebenso in dem Hause als außer dem Hause bemerklich
gemacht hatte. Herr v. Saucken brachte in der That den Grundgedanken
Virchow's aus die klarste Formel, bei der aber auch die Falschheit des Ge¬
dankens sofort in die Augen springt. Herr v. Saucken sagte: nach seiner Logik
gebe es in Sachen des Glaubens nur zwei Principien: Autorität oder Indi¬
vidualität. Ein drittes Princip, Majorität, könne es in äußeren Dingen
geben, aber nicht in inneren. Indem die neue Kirchenverfassung das Majo¬
ritätsprincip in Glaubensdingen einführen wolle, sei sie inconsequent und ver¬
werflich.
Bei einiger Consequenz hätte der Redner sich sagen müssen, daß darnach
sein Meister Virchow immer noch ein großer Reaktionär in kirchlichen Dingen
ist. Denn wenn in Glaubensdingen nur das Jndividualitätsprinetp zulässig,
so muß jeder Mensch seinen Glauben für sich haben und schon die kleinste
Gemeinde führt zum Glaubenszwang. Das wahre Verhältniß ist doch aber
dieses, daß zwar die evangelische Kirche nicht beanspruchen darf und niemals
beansprucht hat, dem Einzelnen die innere Glaubensthat abzunehmen, daß sie
aber beansprucht und zu beanspruchen verpflichtet ist, die größtmögliche
Gemeinschaft der Lehre und der äußeren Kirchengestaltung. Die Lehre ist
nicht der Glaube, sondern das Mittel des Glaubens. Behaupten, daß die
Menschen sich im Glauben nicht zusammenfinden könnten, heißt behaupten,
daß sie sich nicht in der Wahrheit zusammenfinden können, was vielmehr das
erhabenste Ziel der Menschheit ist. Das Mittel dieses Zusammenfindens ist
die Gemeinschaft der Lehre. Und die Freiheit der eigenen Glaubensthat auf
einem gemeinsamen Lehrgrund ist in einer großen Gemeinschaft weit besser
verbürgt, als in einer kleinen souveränen Gemeinde. In der letzteren macht
sich zufälliges subjectives Wesen sofort aufdringlich breit. Nun kann es
allerdings vorkommen, daß die Lehrentwickelung einer großen kirchlichen Ge¬
meinschaft bald hier bald dort nicht Schritt hält mit den geistlichen Theo¬
remen, welche der Einzelne sich bildet oder sich bilden möchte. Aber die
evangelische Lehrentwickelung übt ja keinen Gewissenszwang, sie macht aus
abweichenden Lehrmeinungen keine Ketzerei, die verflucht wird. Der Einzelne
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