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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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für seinen unerquicklichen Zustand in Anspruch zu nehmen. -- Kurz, wir be¬
finden uns unter lauter unglücklichen Menschen. Eine von Mallet vorge¬
schlagene Uebersiedelung in eine Villa bei Florenz, von der jener Besserung
des Zustandes seines von ihm noch immer nicht ganz aufgegebenen Freundes
erwartet, führt keine Heilung Roderick's herbei. Eines Abends sitzen Frau
Hudson, Fräulein Garland, die Braut, und Mallet im Garten und freuen
sich melancholisch der zauberhaft schönen Nacht, als Roderick, augenscheinlich
in seiner finstersten Stimmung, sich zu ihnen gesellt.

"Er stand einen Augenblick da und blickte aufmerksam in die Landschaft
hinaus. -- Es ist eine sehr schöne Nacht, mein Sohn, sagte seine Mutter,
indem sie schüchtern zu ihm hinging und seinen Arm berührte. -- Er fuhr
sich mit der Hand durch seine Haare und ließ sie dort, indem er seine dichten
Locken erfaßte. Schön? rief er. Natürlich ist's schön! Alles ist schön. Alles
ist voll unverschämte, herausfordernde, giähliche Schönheit. Nichts ist häßlich,
als ich -- ich und mein armes abgestorbenes Gehirn! -- Oh, mein liebster
Sohn, sagte Frau Hudson, fühlst du dich denn noch nicht besser? --Roderick
gab nicht sogleich eine Antwort, aber zuletzt sprach er mit anderer Stimme:
Ich kam ausdrücklich hierher, um euch zu sagen, daß ihr euch nicht mehr
damit abzuquälen braucht, daß ihr auf eine Aenderung zum Bessern wartet.
Eine hoche Aenderung wird nicht eintreten. Es ist Alles vorbei. Ich sagte,
als ich hierher kam, ich wollte der Sache eine Gelegenheit geben sich zu bessern.
Ich habe ihr diese Gelegenheit gegeben. Oder nicht, he? Oder etwa nicht,
Rowland? Es nutzt aber nichts -- die Geschichte ist fehlgeschlagen. Thut
jetzt mit mir, was euch beliebt. Ich empfehle euch, mich dort an das Ende
des Gartens hinzustellen und todt zu schießen. -- Ich fühle starke Neigung,
sagte Rowland (Mallet), fortzugehen und meinen Revolver zu holen." U. f. w-

Trotz alledem läßt Mallet die Hoffnung auf eine Wendung der Dinge
zu erfreulicheren Verhältnissen nicht fahren, und wenn wir seine Geduld be¬
wundern, so müssen wir seine Ansicht, daß Roderick's Verdüsterung einmal
weichen und die Sonne seines Genius wieder aufgehen und Früchte reifen
werde, billigen; denn wer einmal so Bedeutendes geschaffen hat, wie Roderick,
braucht nicht eher aufgegeben zu werden, als bis sich zeigt, daß seine geistige
Störung auf körperlichen Ursachen beruht.

Man versucht es nun, als Florenz nichts geholfen hat, mit einem mehr¬
wochentlichen Aufenthalt in einem kleinen Gebirgswirthshause in der Schweiz-
Hier aber begegnet Roderick seiner Geliebten von ehedem, die jetzt als Fürstin
Casamassima mit ihrem Gemahl umherreist, von Neuem, und obwohl er sie
vorher in den stärksten Ausdrücken als treulos, herzlos und trugvoll ver¬
dammt hat, empfindet er sofort den alten Zauber so stark, daß er ihrer Ein¬
ladung, ihr zu folgen, zu entsprechen im Begriff ist und, als Mallet ihm die

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für seinen unerquicklichen Zustand in Anspruch zu nehmen. — Kurz, wir be¬
finden uns unter lauter unglücklichen Menschen. Eine von Mallet vorge¬
schlagene Uebersiedelung in eine Villa bei Florenz, von der jener Besserung
des Zustandes seines von ihm noch immer nicht ganz aufgegebenen Freundes
erwartet, führt keine Heilung Roderick's herbei. Eines Abends sitzen Frau
Hudson, Fräulein Garland, die Braut, und Mallet im Garten und freuen
sich melancholisch der zauberhaft schönen Nacht, als Roderick, augenscheinlich
in seiner finstersten Stimmung, sich zu ihnen gesellt.

„Er stand einen Augenblick da und blickte aufmerksam in die Landschaft
hinaus. — Es ist eine sehr schöne Nacht, mein Sohn, sagte seine Mutter,
indem sie schüchtern zu ihm hinging und seinen Arm berührte. — Er fuhr
sich mit der Hand durch seine Haare und ließ sie dort, indem er seine dichten
Locken erfaßte. Schön? rief er. Natürlich ist's schön! Alles ist schön. Alles
ist voll unverschämte, herausfordernde, giähliche Schönheit. Nichts ist häßlich,
als ich — ich und mein armes abgestorbenes Gehirn! — Oh, mein liebster
Sohn, sagte Frau Hudson, fühlst du dich denn noch nicht besser? —Roderick
gab nicht sogleich eine Antwort, aber zuletzt sprach er mit anderer Stimme:
Ich kam ausdrücklich hierher, um euch zu sagen, daß ihr euch nicht mehr
damit abzuquälen braucht, daß ihr auf eine Aenderung zum Bessern wartet.
Eine hoche Aenderung wird nicht eintreten. Es ist Alles vorbei. Ich sagte,
als ich hierher kam, ich wollte der Sache eine Gelegenheit geben sich zu bessern.
Ich habe ihr diese Gelegenheit gegeben. Oder nicht, he? Oder etwa nicht,
Rowland? Es nutzt aber nichts — die Geschichte ist fehlgeschlagen. Thut
jetzt mit mir, was euch beliebt. Ich empfehle euch, mich dort an das Ende
des Gartens hinzustellen und todt zu schießen. — Ich fühle starke Neigung,
sagte Rowland (Mallet), fortzugehen und meinen Revolver zu holen." U. f. w-

Trotz alledem läßt Mallet die Hoffnung auf eine Wendung der Dinge
zu erfreulicheren Verhältnissen nicht fahren, und wenn wir seine Geduld be¬
wundern, so müssen wir seine Ansicht, daß Roderick's Verdüsterung einmal
weichen und die Sonne seines Genius wieder aufgehen und Früchte reifen
werde, billigen; denn wer einmal so Bedeutendes geschaffen hat, wie Roderick,
braucht nicht eher aufgegeben zu werden, als bis sich zeigt, daß seine geistige
Störung auf körperlichen Ursachen beruht.

Man versucht es nun, als Florenz nichts geholfen hat, mit einem mehr¬
wochentlichen Aufenthalt in einem kleinen Gebirgswirthshause in der Schweiz-
Hier aber begegnet Roderick seiner Geliebten von ehedem, die jetzt als Fürstin
Casamassima mit ihrem Gemahl umherreist, von Neuem, und obwohl er sie
vorher in den stärksten Ausdrücken als treulos, herzlos und trugvoll ver¬
dammt hat, empfindet er sofort den alten Zauber so stark, daß er ihrer Ein¬
ladung, ihr zu folgen, zu entsprechen im Begriff ist und, als Mallet ihm die

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[0426] für seinen unerquicklichen Zustand in Anspruch zu nehmen. — Kurz, wir be¬ finden uns unter lauter unglücklichen Menschen. Eine von Mallet vorge¬ schlagene Uebersiedelung in eine Villa bei Florenz, von der jener Besserung des Zustandes seines von ihm noch immer nicht ganz aufgegebenen Freundes erwartet, führt keine Heilung Roderick's herbei. Eines Abends sitzen Frau Hudson, Fräulein Garland, die Braut, und Mallet im Garten und freuen sich melancholisch der zauberhaft schönen Nacht, als Roderick, augenscheinlich in seiner finstersten Stimmung, sich zu ihnen gesellt. „Er stand einen Augenblick da und blickte aufmerksam in die Landschaft hinaus. — Es ist eine sehr schöne Nacht, mein Sohn, sagte seine Mutter, indem sie schüchtern zu ihm hinging und seinen Arm berührte. — Er fuhr sich mit der Hand durch seine Haare und ließ sie dort, indem er seine dichten Locken erfaßte. Schön? rief er. Natürlich ist's schön! Alles ist schön. Alles ist voll unverschämte, herausfordernde, giähliche Schönheit. Nichts ist häßlich, als ich — ich und mein armes abgestorbenes Gehirn! — Oh, mein liebster Sohn, sagte Frau Hudson, fühlst du dich denn noch nicht besser? —Roderick gab nicht sogleich eine Antwort, aber zuletzt sprach er mit anderer Stimme: Ich kam ausdrücklich hierher, um euch zu sagen, daß ihr euch nicht mehr damit abzuquälen braucht, daß ihr auf eine Aenderung zum Bessern wartet. Eine hoche Aenderung wird nicht eintreten. Es ist Alles vorbei. Ich sagte, als ich hierher kam, ich wollte der Sache eine Gelegenheit geben sich zu bessern. Ich habe ihr diese Gelegenheit gegeben. Oder nicht, he? Oder etwa nicht, Rowland? Es nutzt aber nichts — die Geschichte ist fehlgeschlagen. Thut jetzt mit mir, was euch beliebt. Ich empfehle euch, mich dort an das Ende des Gartens hinzustellen und todt zu schießen. — Ich fühle starke Neigung, sagte Rowland (Mallet), fortzugehen und meinen Revolver zu holen." U. f. w- Trotz alledem läßt Mallet die Hoffnung auf eine Wendung der Dinge zu erfreulicheren Verhältnissen nicht fahren, und wenn wir seine Geduld be¬ wundern, so müssen wir seine Ansicht, daß Roderick's Verdüsterung einmal weichen und die Sonne seines Genius wieder aufgehen und Früchte reifen werde, billigen; denn wer einmal so Bedeutendes geschaffen hat, wie Roderick, braucht nicht eher aufgegeben zu werden, als bis sich zeigt, daß seine geistige Störung auf körperlichen Ursachen beruht. Man versucht es nun, als Florenz nichts geholfen hat, mit einem mehr¬ wochentlichen Aufenthalt in einem kleinen Gebirgswirthshause in der Schweiz- Hier aber begegnet Roderick seiner Geliebten von ehedem, die jetzt als Fürstin Casamassima mit ihrem Gemahl umherreist, von Neuem, und obwohl er sie vorher in den stärksten Ausdrücken als treulos, herzlos und trugvoll ver¬ dammt hat, empfindet er sofort den alten Zauber so stark, daß er ihrer Ein¬ ladung, ihr zu folgen, zu entsprechen im Begriff ist und, als Mallet ihm die I

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/426>, abgerufen am 23.07.2024.