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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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stellt Lindner's "Katziporus" dar, der die Zote ohne alle Verbrämung mit
Moral und ohne Anspruch auf Witz servirt.

Das Abendland wie das Morgenland, das Alterthum wie die neue Zeit
haben ihre Narrenstädte, die Türken ihr Sivrihissar, die alten Hellenen ihr
Abdera, die Neugriechen ihr Scio, "wo man ebenso selten einen vernünftigen
Menschen zu sehen kriegt als ein grünes Pferd", die Franzosen ihre Gas-
cogne, die Briten ihren irischen Paddy mit seinen tausend Pinseleien, und
wie jeder Ort von einiger Größe in Deutschland seine Stadtfigur besitzt, so
hat er auch ein benachbartes Städtchen oder Dorf, das die Zielscheibe seiner
guten oder schlechten Witze ist. Das war in der lustigen Zeit, wo der deutsche
Volkshumor in der höchsten Blüthe stand, wahrscheinlich in noch ausgedehn¬
terem Maße der Fall, und indem die von der oder jener Stadt- oder Dorf'
gemeinte erzählten Gimpeleien von einem Liebhaber dieser Dinge gesammelt
und auf eine einzige Stadt, die aber nur fingirt war, gehäuft wurden, ent-
stand die Anekdotensammlung, die sich "Die Schildbürger" oder "Die Laien zu
Lalenburg" nennt, und die später im "Grillenvertreiber" ihre Fortsetzung fand.
Es ist die Carricatur des Pfahlbürgerthums, die wir hier vor uns haben-
Die Laien sind ursprünglich so weise Leute, daß man sie an alle Höfe und
in alle Regierungen der Welt beruft. Dabei leidet zuletzt ihr eignes Gemein¬
wesen, das den Frauen überlassen geblieben ist. Die Männer müssen heim-
kehren und finden hier als Frucht ihrer Weisheit nur Noth und Zerrüttung.
Infolge dessen legen sie sich auf die Thorheit. Das ist ein sehr guter Ein"
fall, und wenn nun gezeigt werden soll, wie die Weisheit sich allmälig zur
Narrheit abschliff, so nimmt der Verfasser dazu einen ganz hübschen Anlauf,
indem die ersten Thorheiten nur ein Vergessen der Erfahrung und die darauf
folgenden bereits eine falsche Anwendung der Erfahrung zeigen; aber bald
wird diese Entwickelung fallen gelassen, und die Schildbürger sind vollendete
Narren, die nun jene zwei oder drei Dutzend Albernheiten begehen, welche
auch hier nur zusammengestellt sind, und denen man zum Theil schon in den
genannten älteren Sammlungen begegnet.

Die Lust, einem Nachbarorte eine unglaubliche Probe der Einfalt seiner
Bewohner anzuhängen, dem Gefallen an Lügenmärchen und Geschichtchen vorn
dummen Jungen verwandt, aber zugleich satirischer Natur, aufs Foppen und
Schrauben gerichtet, florirre auch nach Erscheinen der Bebel'schen und Kirch-
hof'schen Schwänkesammlungen und des Lalenbuches fort, und diese Schriften
sind in vielen Fällen Ursache geworden, daß dieselben Geschichten weit von
einander entfernten Städtchen und Dörfern nachgesagt werden. Es wurde
wohl gelegentlich eine neue Neckerei erfunden, aber für die meisten der Schild¬
bürgerstreiche, die wir auf dem Conto süddeutscher und norddeutscher Orte
finden, sind diese und verwandte Bücher das Magazin gewesen, aus dem sie


stellt Lindner's „Katziporus" dar, der die Zote ohne alle Verbrämung mit
Moral und ohne Anspruch auf Witz servirt.

Das Abendland wie das Morgenland, das Alterthum wie die neue Zeit
haben ihre Narrenstädte, die Türken ihr Sivrihissar, die alten Hellenen ihr
Abdera, die Neugriechen ihr Scio, „wo man ebenso selten einen vernünftigen
Menschen zu sehen kriegt als ein grünes Pferd", die Franzosen ihre Gas-
cogne, die Briten ihren irischen Paddy mit seinen tausend Pinseleien, und
wie jeder Ort von einiger Größe in Deutschland seine Stadtfigur besitzt, so
hat er auch ein benachbartes Städtchen oder Dorf, das die Zielscheibe seiner
guten oder schlechten Witze ist. Das war in der lustigen Zeit, wo der deutsche
Volkshumor in der höchsten Blüthe stand, wahrscheinlich in noch ausgedehn¬
terem Maße der Fall, und indem die von der oder jener Stadt- oder Dorf'
gemeinte erzählten Gimpeleien von einem Liebhaber dieser Dinge gesammelt
und auf eine einzige Stadt, die aber nur fingirt war, gehäuft wurden, ent-
stand die Anekdotensammlung, die sich „Die Schildbürger" oder „Die Laien zu
Lalenburg" nennt, und die später im „Grillenvertreiber" ihre Fortsetzung fand.
Es ist die Carricatur des Pfahlbürgerthums, die wir hier vor uns haben-
Die Laien sind ursprünglich so weise Leute, daß man sie an alle Höfe und
in alle Regierungen der Welt beruft. Dabei leidet zuletzt ihr eignes Gemein¬
wesen, das den Frauen überlassen geblieben ist. Die Männer müssen heim-
kehren und finden hier als Frucht ihrer Weisheit nur Noth und Zerrüttung.
Infolge dessen legen sie sich auf die Thorheit. Das ist ein sehr guter Ein«
fall, und wenn nun gezeigt werden soll, wie die Weisheit sich allmälig zur
Narrheit abschliff, so nimmt der Verfasser dazu einen ganz hübschen Anlauf,
indem die ersten Thorheiten nur ein Vergessen der Erfahrung und die darauf
folgenden bereits eine falsche Anwendung der Erfahrung zeigen; aber bald
wird diese Entwickelung fallen gelassen, und die Schildbürger sind vollendete
Narren, die nun jene zwei oder drei Dutzend Albernheiten begehen, welche
auch hier nur zusammengestellt sind, und denen man zum Theil schon in den
genannten älteren Sammlungen begegnet.

Die Lust, einem Nachbarorte eine unglaubliche Probe der Einfalt seiner
Bewohner anzuhängen, dem Gefallen an Lügenmärchen und Geschichtchen vorn
dummen Jungen verwandt, aber zugleich satirischer Natur, aufs Foppen und
Schrauben gerichtet, florirre auch nach Erscheinen der Bebel'schen und Kirch-
hof'schen Schwänkesammlungen und des Lalenbuches fort, und diese Schriften
sind in vielen Fällen Ursache geworden, daß dieselben Geschichten weit von
einander entfernten Städtchen und Dörfern nachgesagt werden. Es wurde
wohl gelegentlich eine neue Neckerei erfunden, aber für die meisten der Schild¬
bürgerstreiche, die wir auf dem Conto süddeutscher und norddeutscher Orte
finden, sind diese und verwandte Bücher das Magazin gewesen, aus dem sie


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[0308] stellt Lindner's „Katziporus" dar, der die Zote ohne alle Verbrämung mit Moral und ohne Anspruch auf Witz servirt. Das Abendland wie das Morgenland, das Alterthum wie die neue Zeit haben ihre Narrenstädte, die Türken ihr Sivrihissar, die alten Hellenen ihr Abdera, die Neugriechen ihr Scio, „wo man ebenso selten einen vernünftigen Menschen zu sehen kriegt als ein grünes Pferd", die Franzosen ihre Gas- cogne, die Briten ihren irischen Paddy mit seinen tausend Pinseleien, und wie jeder Ort von einiger Größe in Deutschland seine Stadtfigur besitzt, so hat er auch ein benachbartes Städtchen oder Dorf, das die Zielscheibe seiner guten oder schlechten Witze ist. Das war in der lustigen Zeit, wo der deutsche Volkshumor in der höchsten Blüthe stand, wahrscheinlich in noch ausgedehn¬ terem Maße der Fall, und indem die von der oder jener Stadt- oder Dorf' gemeinte erzählten Gimpeleien von einem Liebhaber dieser Dinge gesammelt und auf eine einzige Stadt, die aber nur fingirt war, gehäuft wurden, ent- stand die Anekdotensammlung, die sich „Die Schildbürger" oder „Die Laien zu Lalenburg" nennt, und die später im „Grillenvertreiber" ihre Fortsetzung fand. Es ist die Carricatur des Pfahlbürgerthums, die wir hier vor uns haben- Die Laien sind ursprünglich so weise Leute, daß man sie an alle Höfe und in alle Regierungen der Welt beruft. Dabei leidet zuletzt ihr eignes Gemein¬ wesen, das den Frauen überlassen geblieben ist. Die Männer müssen heim- kehren und finden hier als Frucht ihrer Weisheit nur Noth und Zerrüttung. Infolge dessen legen sie sich auf die Thorheit. Das ist ein sehr guter Ein« fall, und wenn nun gezeigt werden soll, wie die Weisheit sich allmälig zur Narrheit abschliff, so nimmt der Verfasser dazu einen ganz hübschen Anlauf, indem die ersten Thorheiten nur ein Vergessen der Erfahrung und die darauf folgenden bereits eine falsche Anwendung der Erfahrung zeigen; aber bald wird diese Entwickelung fallen gelassen, und die Schildbürger sind vollendete Narren, die nun jene zwei oder drei Dutzend Albernheiten begehen, welche auch hier nur zusammengestellt sind, und denen man zum Theil schon in den genannten älteren Sammlungen begegnet. Die Lust, einem Nachbarorte eine unglaubliche Probe der Einfalt seiner Bewohner anzuhängen, dem Gefallen an Lügenmärchen und Geschichtchen vorn dummen Jungen verwandt, aber zugleich satirischer Natur, aufs Foppen und Schrauben gerichtet, florirre auch nach Erscheinen der Bebel'schen und Kirch- hof'schen Schwänkesammlungen und des Lalenbuches fort, und diese Schriften sind in vielen Fällen Ursache geworden, daß dieselben Geschichten weit von einander entfernten Städtchen und Dörfern nachgesagt werden. Es wurde wohl gelegentlich eine neue Neckerei erfunden, aber für die meisten der Schild¬ bürgerstreiche, die wir auf dem Conto süddeutscher und norddeutscher Orte finden, sind diese und verwandte Bücher das Magazin gewesen, aus dem sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/308>, abgerufen am 27.09.2024.