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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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Welt suchte sich in der Dichtung wie im Leben der Deutschen geltend zu ma¬
chen; wie unter den Menschen so nahm in den schalkhaften Historien dieser
Zeit auch unter den Thieren und droben im Himmel Alles diese Wendung.

Dem Geiste der Zeit gemäß waren diese Aeußerungen des Volkshumors
nur in seltnen Fällen fein und sauber, sehr oft dagegen ungeschlacht und un-
fläthtg. Ueber nicht wenigen Abenteuern in den Büchern dieser Tage -- wir
erinnern nur an den norddeutschen Eulenspiegel und an den südostdeutschen
Pfaffen von Kalenberg -- ist die Sauglocke geläutet, und die Dichter der
nürnberger Fastnachtsspiele wälzen sich förmlich im Schmutze. Das Narren-
thum bekam seine Narrenfeste, deren höchstes, der Dienstag vor Aschermitt¬
woch, "aller Narren Kirchtag" war. Wie früher die Geißler, so zogen jetzt
die Narren in Schaaren durch die Städte, und statt der Litaneien jener er¬
schollen nun die Jubelrufe und Neckereien dieser in den Gassen. Narrenver¬
eine warfen den Ernst ganz beiseite und lebten in stetem Gegensatz zu der
Ehrbarkeit und Gesetztheit des bürgerlichen Herkommens -- Antipoden des
Mönchswesens in seinem Gegensatz zur Weltlichkeit. Spaßvogel wanderten,
mit Thorheiten den Alltagsverstand bekämpfend, durch das Land -- eine
Parodie der fahrenden Ritter, die ehedem gegen Riesen und Ungeheuer ge¬
stritten.

Die Kirche erlaubte die Ausdehnung der Possenspiele über die Fastnacht
hinaus ohne Widerstreben. Am Osterfeste wurden komische Predigten gehalten,
welche das Volk zum Lachen (risus Mseliglös) zu reizen bestimmt waren, und
bei denen sich besonders die ursprünglich so ernst angelegten Nachfolger des
heiligen Franciscus hervorthaten. Zu Pfingsten hatte im Münster zu Stra߬
burg der "Rohraffe", das Conterfei eines tölpelhaften Bauern, unter der
Orgel die Aufgabe, die Gemeinde mit Späßen zu unterhalten, denen später
ein Wettkampf desselben mit einem Hahne folgte. Eine Menge von Schwän-
ken wurden erzählt, in denen Petrus, der Himmelspförtner, als Geprellter
figurirte, oder Maria. Christus, ja selbst Gott Vater in komischem Lichte
erschien. Kein Wunder, daß Sebastian Brand das Treiben seiner Zeit unter
dem Bilde eines Narrenschiffs schilderte. Schickte sich der Volkshumor doch
an, in den sogenannten Todtentänzen, von denen wir in Dresden und Basel
noch Beispiele besitzen, sogar in die Friedhöfe einzudringen.

Um das Ende des fünfzehnten Jahrhunderts war der ursprünglich ge¬
sunde Trieb vielfach zur Krankheit geworden. Ein Narr hatte zehn Narren
gemacht, die Lust wurde als Last empfunden, und die Reichspolizei hielt es
für nöthig, gegen diese Entartung Verordnungen zu erlassen. Der Humor
des Volkes aber ließ sich nur einschränken, nicht bannen, und außer den
Schöpfungen der alten Zeit, die unverwischt auf uns gelangt sind, haben
wir noch zahlreiche Beiträge der letzten Jahrhunderte zu verzeichnen.


Welt suchte sich in der Dichtung wie im Leben der Deutschen geltend zu ma¬
chen; wie unter den Menschen so nahm in den schalkhaften Historien dieser
Zeit auch unter den Thieren und droben im Himmel Alles diese Wendung.

Dem Geiste der Zeit gemäß waren diese Aeußerungen des Volkshumors
nur in seltnen Fällen fein und sauber, sehr oft dagegen ungeschlacht und un-
fläthtg. Ueber nicht wenigen Abenteuern in den Büchern dieser Tage — wir
erinnern nur an den norddeutschen Eulenspiegel und an den südostdeutschen
Pfaffen von Kalenberg — ist die Sauglocke geläutet, und die Dichter der
nürnberger Fastnachtsspiele wälzen sich förmlich im Schmutze. Das Narren-
thum bekam seine Narrenfeste, deren höchstes, der Dienstag vor Aschermitt¬
woch, „aller Narren Kirchtag" war. Wie früher die Geißler, so zogen jetzt
die Narren in Schaaren durch die Städte, und statt der Litaneien jener er¬
schollen nun die Jubelrufe und Neckereien dieser in den Gassen. Narrenver¬
eine warfen den Ernst ganz beiseite und lebten in stetem Gegensatz zu der
Ehrbarkeit und Gesetztheit des bürgerlichen Herkommens — Antipoden des
Mönchswesens in seinem Gegensatz zur Weltlichkeit. Spaßvogel wanderten,
mit Thorheiten den Alltagsverstand bekämpfend, durch das Land — eine
Parodie der fahrenden Ritter, die ehedem gegen Riesen und Ungeheuer ge¬
stritten.

Die Kirche erlaubte die Ausdehnung der Possenspiele über die Fastnacht
hinaus ohne Widerstreben. Am Osterfeste wurden komische Predigten gehalten,
welche das Volk zum Lachen (risus Mseliglös) zu reizen bestimmt waren, und
bei denen sich besonders die ursprünglich so ernst angelegten Nachfolger des
heiligen Franciscus hervorthaten. Zu Pfingsten hatte im Münster zu Stra߬
burg der „Rohraffe", das Conterfei eines tölpelhaften Bauern, unter der
Orgel die Aufgabe, die Gemeinde mit Späßen zu unterhalten, denen später
ein Wettkampf desselben mit einem Hahne folgte. Eine Menge von Schwän-
ken wurden erzählt, in denen Petrus, der Himmelspförtner, als Geprellter
figurirte, oder Maria. Christus, ja selbst Gott Vater in komischem Lichte
erschien. Kein Wunder, daß Sebastian Brand das Treiben seiner Zeit unter
dem Bilde eines Narrenschiffs schilderte. Schickte sich der Volkshumor doch
an, in den sogenannten Todtentänzen, von denen wir in Dresden und Basel
noch Beispiele besitzen, sogar in die Friedhöfe einzudringen.

Um das Ende des fünfzehnten Jahrhunderts war der ursprünglich ge¬
sunde Trieb vielfach zur Krankheit geworden. Ein Narr hatte zehn Narren
gemacht, die Lust wurde als Last empfunden, und die Reichspolizei hielt es
für nöthig, gegen diese Entartung Verordnungen zu erlassen. Der Humor
des Volkes aber ließ sich nur einschränken, nicht bannen, und außer den
Schöpfungen der alten Zeit, die unverwischt auf uns gelangt sind, haben
wir noch zahlreiche Beiträge der letzten Jahrhunderte zu verzeichnen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/300>, abgerufen am 27.09.2024.