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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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Verfassung noch Lehre geändert? Was hilft es, protestantische Doktrinäre
anzurufen, daß jene Definition nur der formelle Abschluß der bisher gemein¬
gültigen Kirchenanschauung gewesen? Was hilft es, fragen wir, da die
Wahrheit des Gegentheils fo sichtbar auf der Hand liegt? Es ist nicht
wahr, daß der Katholicismus in seinem ursprünglichen Keime angelegt ge¬
wesen auf den päpstlichen Absolutismus, der nun als des Katholicismus
reinste Blüthe zum Vorschein gekommen. Die Entwickelung zum Absolutis¬
mus, einer dem Wesen aller Religion und Kirche tief widersprechenden Form
des Regiments, ist der katholischen Kirche nur aufgedrängt worden, weil die
in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters so vielgeforderte Reformation
an Haupt und Gliedern durch die Schuld der Päpste vereitelt wurde. Durch
diese Vereitelung kam es zur Kirchenspaltung und weil nun ein Theil der
christlichen Obrigkeit vom römischen Katholicismus losgerissen war, konnte
Rom sich nur noch durch den Absolutismus behaupten, der das eigentliche
Muvernement ein combat ist. Die großen katholisch gebliebenen Staaten
kämpften bald, bald unterstützten sie den päpstlichen Absolutismus, je nachdem
sie selbst im Gegensatz zum Protestantismus standen und der päpstlichen An¬
lehnung bedurften. Angelegt war der Katholicismus in seinem ursprünglich
edlen Keime auf die Gemeinschaft der Christenheit durch den hohen Rath
aller christlichen Obrigkeiten, der kirchlichen, wie der staatlichen. Diese Ge¬
meinschaft konnte den Primat des römischen Bischofs ertragen, aber nicht
den geistlichen Despotismus desselben. Seitdem dieser Despotismus seiner
Vollendung sich genähert hat. findet er selbst unter katholischen Regierungen
keine Bundesgenossen, als das einzige weltliche Aouvöivomeut ein eontin.

Indem nun der deutsche Staat der vaticanischen Kirche gegenüber die
Stellung eingenommen hat, derselben die großen Rechte der früheren römi¬
schen Kirche zu belassen und nur stärkere Bürgschaften gegen den Mißbrauch
der ihr verliehenen obrigkeitlichen Befugnisse gesetzlich zu verlangen, so fragt
es sich, warum die vaticanische Kirche diese Bürgschaften für unverträglich
mit ihrem Wesen, ja für ihre Vernichtung erklärt. Bei der Beleuchtung,
die Herr Reichensperger diesem Punkt zukommen läßt, muß es wiederum sehr
Wunder nehmen, wie ungenügend er den Beweis führt, daß in der Auf¬
stellung dieser Bürgschaften ein ganz beispielloses Verfahren liege. Er beruft
sich auf das Zeugniß einiger englischen Toryorgane, deren leidliche Unwissen¬
heit ihm doch wohl kein Geheimniß ist, auf die doctrinäre Ausführung wohl¬
wollender, aber nicht scharf denkender deutscher Gelehrten und zuletzt auf
Herrn Bonghi, den italienischen Kultusminister, der auch kein Kenner ersten
Ranges in dieser Materie ist. Aber er unterläßt, worauf es ganz allein
ankommt, nämlich die Vergleichung der französischen, der österreichischen vor
dem Concordat von 1855, der bairischen und vieler anderen, namentlich aber


Verfassung noch Lehre geändert? Was hilft es, protestantische Doktrinäre
anzurufen, daß jene Definition nur der formelle Abschluß der bisher gemein¬
gültigen Kirchenanschauung gewesen? Was hilft es, fragen wir, da die
Wahrheit des Gegentheils fo sichtbar auf der Hand liegt? Es ist nicht
wahr, daß der Katholicismus in seinem ursprünglichen Keime angelegt ge¬
wesen auf den päpstlichen Absolutismus, der nun als des Katholicismus
reinste Blüthe zum Vorschein gekommen. Die Entwickelung zum Absolutis¬
mus, einer dem Wesen aller Religion und Kirche tief widersprechenden Form
des Regiments, ist der katholischen Kirche nur aufgedrängt worden, weil die
in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters so vielgeforderte Reformation
an Haupt und Gliedern durch die Schuld der Päpste vereitelt wurde. Durch
diese Vereitelung kam es zur Kirchenspaltung und weil nun ein Theil der
christlichen Obrigkeit vom römischen Katholicismus losgerissen war, konnte
Rom sich nur noch durch den Absolutismus behaupten, der das eigentliche
Muvernement ein combat ist. Die großen katholisch gebliebenen Staaten
kämpften bald, bald unterstützten sie den päpstlichen Absolutismus, je nachdem
sie selbst im Gegensatz zum Protestantismus standen und der päpstlichen An¬
lehnung bedurften. Angelegt war der Katholicismus in seinem ursprünglich
edlen Keime auf die Gemeinschaft der Christenheit durch den hohen Rath
aller christlichen Obrigkeiten, der kirchlichen, wie der staatlichen. Diese Ge¬
meinschaft konnte den Primat des römischen Bischofs ertragen, aber nicht
den geistlichen Despotismus desselben. Seitdem dieser Despotismus seiner
Vollendung sich genähert hat. findet er selbst unter katholischen Regierungen
keine Bundesgenossen, als das einzige weltliche Aouvöivomeut ein eontin.

Indem nun der deutsche Staat der vaticanischen Kirche gegenüber die
Stellung eingenommen hat, derselben die großen Rechte der früheren römi¬
schen Kirche zu belassen und nur stärkere Bürgschaften gegen den Mißbrauch
der ihr verliehenen obrigkeitlichen Befugnisse gesetzlich zu verlangen, so fragt
es sich, warum die vaticanische Kirche diese Bürgschaften für unverträglich
mit ihrem Wesen, ja für ihre Vernichtung erklärt. Bei der Beleuchtung,
die Herr Reichensperger diesem Punkt zukommen läßt, muß es wiederum sehr
Wunder nehmen, wie ungenügend er den Beweis führt, daß in der Auf¬
stellung dieser Bürgschaften ein ganz beispielloses Verfahren liege. Er beruft
sich auf das Zeugniß einiger englischen Toryorgane, deren leidliche Unwissen¬
heit ihm doch wohl kein Geheimniß ist, auf die doctrinäre Ausführung wohl¬
wollender, aber nicht scharf denkender deutscher Gelehrten und zuletzt auf
Herrn Bonghi, den italienischen Kultusminister, der auch kein Kenner ersten
Ranges in dieser Materie ist. Aber er unterläßt, worauf es ganz allein
ankommt, nämlich die Vergleichung der französischen, der österreichischen vor
dem Concordat von 1855, der bairischen und vieler anderen, namentlich aber


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[0275] Verfassung noch Lehre geändert? Was hilft es, protestantische Doktrinäre anzurufen, daß jene Definition nur der formelle Abschluß der bisher gemein¬ gültigen Kirchenanschauung gewesen? Was hilft es, fragen wir, da die Wahrheit des Gegentheils fo sichtbar auf der Hand liegt? Es ist nicht wahr, daß der Katholicismus in seinem ursprünglichen Keime angelegt ge¬ wesen auf den päpstlichen Absolutismus, der nun als des Katholicismus reinste Blüthe zum Vorschein gekommen. Die Entwickelung zum Absolutis¬ mus, einer dem Wesen aller Religion und Kirche tief widersprechenden Form des Regiments, ist der katholischen Kirche nur aufgedrängt worden, weil die in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters so vielgeforderte Reformation an Haupt und Gliedern durch die Schuld der Päpste vereitelt wurde. Durch diese Vereitelung kam es zur Kirchenspaltung und weil nun ein Theil der christlichen Obrigkeit vom römischen Katholicismus losgerissen war, konnte Rom sich nur noch durch den Absolutismus behaupten, der das eigentliche Muvernement ein combat ist. Die großen katholisch gebliebenen Staaten kämpften bald, bald unterstützten sie den päpstlichen Absolutismus, je nachdem sie selbst im Gegensatz zum Protestantismus standen und der päpstlichen An¬ lehnung bedurften. Angelegt war der Katholicismus in seinem ursprünglich edlen Keime auf die Gemeinschaft der Christenheit durch den hohen Rath aller christlichen Obrigkeiten, der kirchlichen, wie der staatlichen. Diese Ge¬ meinschaft konnte den Primat des römischen Bischofs ertragen, aber nicht den geistlichen Despotismus desselben. Seitdem dieser Despotismus seiner Vollendung sich genähert hat. findet er selbst unter katholischen Regierungen keine Bundesgenossen, als das einzige weltliche Aouvöivomeut ein eontin. Indem nun der deutsche Staat der vaticanischen Kirche gegenüber die Stellung eingenommen hat, derselben die großen Rechte der früheren römi¬ schen Kirche zu belassen und nur stärkere Bürgschaften gegen den Mißbrauch der ihr verliehenen obrigkeitlichen Befugnisse gesetzlich zu verlangen, so fragt es sich, warum die vaticanische Kirche diese Bürgschaften für unverträglich mit ihrem Wesen, ja für ihre Vernichtung erklärt. Bei der Beleuchtung, die Herr Reichensperger diesem Punkt zukommen läßt, muß es wiederum sehr Wunder nehmen, wie ungenügend er den Beweis führt, daß in der Auf¬ stellung dieser Bürgschaften ein ganz beispielloses Verfahren liege. Er beruft sich auf das Zeugniß einiger englischen Toryorgane, deren leidliche Unwissen¬ heit ihm doch wohl kein Geheimniß ist, auf die doctrinäre Ausführung wohl¬ wollender, aber nicht scharf denkender deutscher Gelehrten und zuletzt auf Herrn Bonghi, den italienischen Kultusminister, der auch kein Kenner ersten Ranges in dieser Materie ist. Aber er unterläßt, worauf es ganz allein ankommt, nämlich die Vergleichung der französischen, der österreichischen vor dem Concordat von 1855, der bairischen und vieler anderen, namentlich aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/275>, abgerufen am 22.07.2024.