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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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wie gemacht erschienen So wurde ihm in Professor Brachmann ein alter
Jugendfreund aufs neue in die Nähe gerückt. Die noch in später Zeit ge¬
knüpfte freundschaftliche Verbindung mit dem Prediger Meyer an der Salvator-
kirche in Breslau ruhete auf den festen Fundamenten gegenseitiger Hochschätzung.
Aus Gnadenfrei kam mitunter die Freundin Elisabeth von Kleist zu ihnen
herüber; auch eine andere jüngere Freundin aus dem Schwesternhause da¬
selbst war ihnen ein gern gesehener Festbesuch. Fräulein Sohr, die warme
Freundin, kehrte auch öfter bei ihnen ein. Aber in sanitätischer Hinsicht wollte
ihm späterhin auch Gnadenfrei nicht mehr zusagen. Er zog dann das Bad
Landeck vor, wo es ihm besonders im Herbste 1872 wohlgefiel.

Um seine Gesundheit durch eine stärkere Cur zu kräftigen, ertheilte ihm
das Ministerium Urlaub für den Sommer 1874. In der Hoffnung, in der
Gebirgsluft der Schweiz Linderung seiner Uebel zu finden, wandte er sich
nach dem lieblichen Badeorte Weißbad in der Nähe von Appenzell. Zuvor
nahm er einen kurzen Aufenthalt bei seinen Verwandten in Jena, Weimar,
Meiningen. Koburg und Neuses. Die Reise gestaltete sich anfangs günstig.
Noch am 9. Juni schrieb er in vergnügter Stimmung, wie herrlich es am
Bodensee, in Lindau und Bregenz gewesen sei. Aber schon in der Nacht
desselben Tages mußte er den herben Schlag erleben, daß seine ihn begleitende
Frau, welche ebenfalls lange gekränkelt hatte, durch einen jähen Herzschlag
plötzlich von seiner Seite gerissen wurde, und zwar auf die unerwartetste
Weise. Er schrieb über dieses Ereigniß in einem Briefe an seine Jenaer
Verwandten vom 13. Juni folgende denkwürdigen Worte: "Die Abendstunden
waren sonnig, und wir, sie wie immer ganz glückselig über die Herrlichkeit
der Natur und der Luft, viel im Freien. Ein prächtiges Glühen der hohen
Felsenhörner um uns versetzte sie in wahre Ekstase. Abends im großen
Speisesaal unter der noch wenig zahlreichen, ihr aber schon sehr vertraut und
lieb gewordenen Gesellschaft war sie wo möglich noch heiterer als sonst, wie
ihr ganzes Wesen Schritt für Schritt auf der Reise alle die schweren Fesseln,
die es bis dahin gedrückt hatten, immer mehr abzuwerfen begonnen hatte.
Sie war wirklich eine andere, wieder jung oder schon verklärt. Nur der
Körper mit seinen Beschwerden war der alte geblieben, und es scheint, als
wenn er dieses neue Jugendleben nicht ertragen konnte."

Nachdem der kurze entscheidende Kampf vorüber war, blieb Rückert die
Nacht allein bei der Leiche und dem schlafenden Kinde; seine kämpfende Seele
stärkte sich an dem Frieden, der über die Züge der Entschlafenen ausgegossen
war. Am Morgen des zweiten Tages kamen sein ältester Bruder und dessen
Frau aus Koburg und der jüngere aus Meiningen zur Hülfe herbei. Nach¬
dem die irdische Hülle seiner treuen Lebensgefährtin auf dem Kirchhofe von
Appenzell ihre letzte Ruhestätte gefunden hatte, kehrte er mit den Geschwistern


wie gemacht erschienen So wurde ihm in Professor Brachmann ein alter
Jugendfreund aufs neue in die Nähe gerückt. Die noch in später Zeit ge¬
knüpfte freundschaftliche Verbindung mit dem Prediger Meyer an der Salvator-
kirche in Breslau ruhete auf den festen Fundamenten gegenseitiger Hochschätzung.
Aus Gnadenfrei kam mitunter die Freundin Elisabeth von Kleist zu ihnen
herüber; auch eine andere jüngere Freundin aus dem Schwesternhause da¬
selbst war ihnen ein gern gesehener Festbesuch. Fräulein Sohr, die warme
Freundin, kehrte auch öfter bei ihnen ein. Aber in sanitätischer Hinsicht wollte
ihm späterhin auch Gnadenfrei nicht mehr zusagen. Er zog dann das Bad
Landeck vor, wo es ihm besonders im Herbste 1872 wohlgefiel.

Um seine Gesundheit durch eine stärkere Cur zu kräftigen, ertheilte ihm
das Ministerium Urlaub für den Sommer 1874. In der Hoffnung, in der
Gebirgsluft der Schweiz Linderung seiner Uebel zu finden, wandte er sich
nach dem lieblichen Badeorte Weißbad in der Nähe von Appenzell. Zuvor
nahm er einen kurzen Aufenthalt bei seinen Verwandten in Jena, Weimar,
Meiningen. Koburg und Neuses. Die Reise gestaltete sich anfangs günstig.
Noch am 9. Juni schrieb er in vergnügter Stimmung, wie herrlich es am
Bodensee, in Lindau und Bregenz gewesen sei. Aber schon in der Nacht
desselben Tages mußte er den herben Schlag erleben, daß seine ihn begleitende
Frau, welche ebenfalls lange gekränkelt hatte, durch einen jähen Herzschlag
plötzlich von seiner Seite gerissen wurde, und zwar auf die unerwartetste
Weise. Er schrieb über dieses Ereigniß in einem Briefe an seine Jenaer
Verwandten vom 13. Juni folgende denkwürdigen Worte: „Die Abendstunden
waren sonnig, und wir, sie wie immer ganz glückselig über die Herrlichkeit
der Natur und der Luft, viel im Freien. Ein prächtiges Glühen der hohen
Felsenhörner um uns versetzte sie in wahre Ekstase. Abends im großen
Speisesaal unter der noch wenig zahlreichen, ihr aber schon sehr vertraut und
lieb gewordenen Gesellschaft war sie wo möglich noch heiterer als sonst, wie
ihr ganzes Wesen Schritt für Schritt auf der Reise alle die schweren Fesseln,
die es bis dahin gedrückt hatten, immer mehr abzuwerfen begonnen hatte.
Sie war wirklich eine andere, wieder jung oder schon verklärt. Nur der
Körper mit seinen Beschwerden war der alte geblieben, und es scheint, als
wenn er dieses neue Jugendleben nicht ertragen konnte."

Nachdem der kurze entscheidende Kampf vorüber war, blieb Rückert die
Nacht allein bei der Leiche und dem schlafenden Kinde; seine kämpfende Seele
stärkte sich an dem Frieden, der über die Züge der Entschlafenen ausgegossen
war. Am Morgen des zweiten Tages kamen sein ältester Bruder und dessen
Frau aus Koburg und der jüngere aus Meiningen zur Hülfe herbei. Nach¬
dem die irdische Hülle seiner treuen Lebensgefährtin auf dem Kirchhofe von
Appenzell ihre letzte Ruhestätte gefunden hatte, kehrte er mit den Geschwistern


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[0228] wie gemacht erschienen So wurde ihm in Professor Brachmann ein alter Jugendfreund aufs neue in die Nähe gerückt. Die noch in später Zeit ge¬ knüpfte freundschaftliche Verbindung mit dem Prediger Meyer an der Salvator- kirche in Breslau ruhete auf den festen Fundamenten gegenseitiger Hochschätzung. Aus Gnadenfrei kam mitunter die Freundin Elisabeth von Kleist zu ihnen herüber; auch eine andere jüngere Freundin aus dem Schwesternhause da¬ selbst war ihnen ein gern gesehener Festbesuch. Fräulein Sohr, die warme Freundin, kehrte auch öfter bei ihnen ein. Aber in sanitätischer Hinsicht wollte ihm späterhin auch Gnadenfrei nicht mehr zusagen. Er zog dann das Bad Landeck vor, wo es ihm besonders im Herbste 1872 wohlgefiel. Um seine Gesundheit durch eine stärkere Cur zu kräftigen, ertheilte ihm das Ministerium Urlaub für den Sommer 1874. In der Hoffnung, in der Gebirgsluft der Schweiz Linderung seiner Uebel zu finden, wandte er sich nach dem lieblichen Badeorte Weißbad in der Nähe von Appenzell. Zuvor nahm er einen kurzen Aufenthalt bei seinen Verwandten in Jena, Weimar, Meiningen. Koburg und Neuses. Die Reise gestaltete sich anfangs günstig. Noch am 9. Juni schrieb er in vergnügter Stimmung, wie herrlich es am Bodensee, in Lindau und Bregenz gewesen sei. Aber schon in der Nacht desselben Tages mußte er den herben Schlag erleben, daß seine ihn begleitende Frau, welche ebenfalls lange gekränkelt hatte, durch einen jähen Herzschlag plötzlich von seiner Seite gerissen wurde, und zwar auf die unerwartetste Weise. Er schrieb über dieses Ereigniß in einem Briefe an seine Jenaer Verwandten vom 13. Juni folgende denkwürdigen Worte: „Die Abendstunden waren sonnig, und wir, sie wie immer ganz glückselig über die Herrlichkeit der Natur und der Luft, viel im Freien. Ein prächtiges Glühen der hohen Felsenhörner um uns versetzte sie in wahre Ekstase. Abends im großen Speisesaal unter der noch wenig zahlreichen, ihr aber schon sehr vertraut und lieb gewordenen Gesellschaft war sie wo möglich noch heiterer als sonst, wie ihr ganzes Wesen Schritt für Schritt auf der Reise alle die schweren Fesseln, die es bis dahin gedrückt hatten, immer mehr abzuwerfen begonnen hatte. Sie war wirklich eine andere, wieder jung oder schon verklärt. Nur der Körper mit seinen Beschwerden war der alte geblieben, und es scheint, als wenn er dieses neue Jugendleben nicht ertragen konnte." Nachdem der kurze entscheidende Kampf vorüber war, blieb Rückert die Nacht allein bei der Leiche und dem schlafenden Kinde; seine kämpfende Seele stärkte sich an dem Frieden, der über die Züge der Entschlafenen ausgegossen war. Am Morgen des zweiten Tages kamen sein ältester Bruder und dessen Frau aus Koburg und der jüngere aus Meiningen zur Hülfe herbei. Nach¬ dem die irdische Hülle seiner treuen Lebensgefährtin auf dem Kirchhofe von Appenzell ihre letzte Ruhestätte gefunden hatte, kehrte er mit den Geschwistern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/228>, abgerufen am 19.10.2024.