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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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liebevolle Mutter, das Musterbild weiblicher Hingabe und Selbstlosigkeit, schal¬
tete. Wer das Glück hatte, in diesem Kreise dann und wann sich einleben
zu dürfen, der begreift es recht wohl, wie gleichsam als eine Art von Heim¬
weh in Heinrich Rückert sich das Ideal eines vom reinsten Wissenschaftsstreben
erfüllten North Lasino ausbilden konnte.

Obgleich er nun aber, wie gesagt, von seinem wissenschaftlichen Stand¬
punkte aus an der kirchlichen Dogmatik der Brüdergemeinde keinen Antheil
nehmen konnte, so bewahrte er doch auch hiergegen, wie überhaupt gegen
alle aufrichtigen Religionsbekenntnisse, die tiefe Achtung, welche aus der in
seinem Charakter fest wurzelnden unbedingten Toleranz erwuchs, und von
welcher er in kleineren Schriften zwei werthvolle Zeugnisse hinterlassen hat.
Zu diesen rechnen wir erstlich seine meisterhafte Charakterzeichnung Dr. Mar¬
tin Luther's im ersten Theile des von Rudolf Gottschall herausgegebenen
Neuen Plutarch (Leipzig 1874), worin er als ein denkbarer und treu er¬
gebener Anhänger und Bewunderer dieses Geisteshelden seine wahre Größe
darin erblickt, der unwiderstehliche Anbahner unserer gegenwärtigen freien
Wissenschaftlicher Geistesströmungen gewesen zu sein. Das andere Zeugniß
bestand in einer eben so werthvollen Abhandlung über den Alten und Neuen
Glauben von David Strauß im Feuilleton der Schlesischen Zeitung (Jahr¬
gang 1873), von welcher es sehr zu bedauern ist, daß sie nicht auch außer¬
dem in Separatabdrücken ist verbreitet worden. In derselben trat auf das
deutlichste die ihn charakterisirende tolerante Art zu Tage, indem er darin den
Strauß'schen Standpunkt keinesweges mit philosophischen Gründen bekämpfte,
vielmehr denselben als einen persönlichen und unmaßgeblichen Glauben gern
gelten ließ, dagegen die Strauß'sche Intoleranz bewunderte, welcher zufolge
entgegengesetzte Ansichten weniger Anspruch auf öffentliche Geltung haben soll¬
ten. Mit Feinheit und Schärfe wies er dabei auf die weit umsichtigere Be¬
handlung des Themas alter und neuer Glaubenssysteme durch Goethe in den
Wanderjahren hin, wo die verschiedenen religiösen Stellungen und Bedürfnisse
so geistvoll durch die drei verschiedenen Stellungen der religiösen Ehrfurcht
shmbolisirt sind. Er deutete dabei zugleich an, daß es jetzt nicht mehr, wie
in vergangenen finsteren und unfreien Zeiten, darauf ankomme, was die
Mehrzahl der Gebildeten glaubt (was ja etwas sehr Unvernünftiges sein kann),
sondern allein darauf, jedermann im Volke die Möglichkeit zu bieten, seinem
speciellen religiösen Glauben hindernißlos und überzeugungstreu sich hingeben
M dürfen.

Wäre das Geschick der sinkenden Gesundheit nicht gewesen, so hätte ihr
Leben in Breslau ein glückliches und zufriedenes^ genannt zu werden verdient.
Denn es fehlte ihnen nach dem Hinscheiden so mancher alten Freunde nicht
an neuen Verbindungen, welche zur Verjüngung und Erheiterung des Lebens


liebevolle Mutter, das Musterbild weiblicher Hingabe und Selbstlosigkeit, schal¬
tete. Wer das Glück hatte, in diesem Kreise dann und wann sich einleben
zu dürfen, der begreift es recht wohl, wie gleichsam als eine Art von Heim¬
weh in Heinrich Rückert sich das Ideal eines vom reinsten Wissenschaftsstreben
erfüllten North Lasino ausbilden konnte.

Obgleich er nun aber, wie gesagt, von seinem wissenschaftlichen Stand¬
punkte aus an der kirchlichen Dogmatik der Brüdergemeinde keinen Antheil
nehmen konnte, so bewahrte er doch auch hiergegen, wie überhaupt gegen
alle aufrichtigen Religionsbekenntnisse, die tiefe Achtung, welche aus der in
seinem Charakter fest wurzelnden unbedingten Toleranz erwuchs, und von
welcher er in kleineren Schriften zwei werthvolle Zeugnisse hinterlassen hat.
Zu diesen rechnen wir erstlich seine meisterhafte Charakterzeichnung Dr. Mar¬
tin Luther's im ersten Theile des von Rudolf Gottschall herausgegebenen
Neuen Plutarch (Leipzig 1874), worin er als ein denkbarer und treu er¬
gebener Anhänger und Bewunderer dieses Geisteshelden seine wahre Größe
darin erblickt, der unwiderstehliche Anbahner unserer gegenwärtigen freien
Wissenschaftlicher Geistesströmungen gewesen zu sein. Das andere Zeugniß
bestand in einer eben so werthvollen Abhandlung über den Alten und Neuen
Glauben von David Strauß im Feuilleton der Schlesischen Zeitung (Jahr¬
gang 1873), von welcher es sehr zu bedauern ist, daß sie nicht auch außer¬
dem in Separatabdrücken ist verbreitet worden. In derselben trat auf das
deutlichste die ihn charakterisirende tolerante Art zu Tage, indem er darin den
Strauß'schen Standpunkt keinesweges mit philosophischen Gründen bekämpfte,
vielmehr denselben als einen persönlichen und unmaßgeblichen Glauben gern
gelten ließ, dagegen die Strauß'sche Intoleranz bewunderte, welcher zufolge
entgegengesetzte Ansichten weniger Anspruch auf öffentliche Geltung haben soll¬
ten. Mit Feinheit und Schärfe wies er dabei auf die weit umsichtigere Be¬
handlung des Themas alter und neuer Glaubenssysteme durch Goethe in den
Wanderjahren hin, wo die verschiedenen religiösen Stellungen und Bedürfnisse
so geistvoll durch die drei verschiedenen Stellungen der religiösen Ehrfurcht
shmbolisirt sind. Er deutete dabei zugleich an, daß es jetzt nicht mehr, wie
in vergangenen finsteren und unfreien Zeiten, darauf ankomme, was die
Mehrzahl der Gebildeten glaubt (was ja etwas sehr Unvernünftiges sein kann),
sondern allein darauf, jedermann im Volke die Möglichkeit zu bieten, seinem
speciellen religiösen Glauben hindernißlos und überzeugungstreu sich hingeben
M dürfen.

Wäre das Geschick der sinkenden Gesundheit nicht gewesen, so hätte ihr
Leben in Breslau ein glückliches und zufriedenes^ genannt zu werden verdient.
Denn es fehlte ihnen nach dem Hinscheiden so mancher alten Freunde nicht
an neuen Verbindungen, welche zur Verjüngung und Erheiterung des Lebens


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[0227] liebevolle Mutter, das Musterbild weiblicher Hingabe und Selbstlosigkeit, schal¬ tete. Wer das Glück hatte, in diesem Kreise dann und wann sich einleben zu dürfen, der begreift es recht wohl, wie gleichsam als eine Art von Heim¬ weh in Heinrich Rückert sich das Ideal eines vom reinsten Wissenschaftsstreben erfüllten North Lasino ausbilden konnte. Obgleich er nun aber, wie gesagt, von seinem wissenschaftlichen Stand¬ punkte aus an der kirchlichen Dogmatik der Brüdergemeinde keinen Antheil nehmen konnte, so bewahrte er doch auch hiergegen, wie überhaupt gegen alle aufrichtigen Religionsbekenntnisse, die tiefe Achtung, welche aus der in seinem Charakter fest wurzelnden unbedingten Toleranz erwuchs, und von welcher er in kleineren Schriften zwei werthvolle Zeugnisse hinterlassen hat. Zu diesen rechnen wir erstlich seine meisterhafte Charakterzeichnung Dr. Mar¬ tin Luther's im ersten Theile des von Rudolf Gottschall herausgegebenen Neuen Plutarch (Leipzig 1874), worin er als ein denkbarer und treu er¬ gebener Anhänger und Bewunderer dieses Geisteshelden seine wahre Größe darin erblickt, der unwiderstehliche Anbahner unserer gegenwärtigen freien Wissenschaftlicher Geistesströmungen gewesen zu sein. Das andere Zeugniß bestand in einer eben so werthvollen Abhandlung über den Alten und Neuen Glauben von David Strauß im Feuilleton der Schlesischen Zeitung (Jahr¬ gang 1873), von welcher es sehr zu bedauern ist, daß sie nicht auch außer¬ dem in Separatabdrücken ist verbreitet worden. In derselben trat auf das deutlichste die ihn charakterisirende tolerante Art zu Tage, indem er darin den Strauß'schen Standpunkt keinesweges mit philosophischen Gründen bekämpfte, vielmehr denselben als einen persönlichen und unmaßgeblichen Glauben gern gelten ließ, dagegen die Strauß'sche Intoleranz bewunderte, welcher zufolge entgegengesetzte Ansichten weniger Anspruch auf öffentliche Geltung haben soll¬ ten. Mit Feinheit und Schärfe wies er dabei auf die weit umsichtigere Be¬ handlung des Themas alter und neuer Glaubenssysteme durch Goethe in den Wanderjahren hin, wo die verschiedenen religiösen Stellungen und Bedürfnisse so geistvoll durch die drei verschiedenen Stellungen der religiösen Ehrfurcht shmbolisirt sind. Er deutete dabei zugleich an, daß es jetzt nicht mehr, wie in vergangenen finsteren und unfreien Zeiten, darauf ankomme, was die Mehrzahl der Gebildeten glaubt (was ja etwas sehr Unvernünftiges sein kann), sondern allein darauf, jedermann im Volke die Möglichkeit zu bieten, seinem speciellen religiösen Glauben hindernißlos und überzeugungstreu sich hingeben M dürfen. Wäre das Geschick der sinkenden Gesundheit nicht gewesen, so hätte ihr Leben in Breslau ein glückliches und zufriedenes^ genannt zu werden verdient. Denn es fehlte ihnen nach dem Hinscheiden so mancher alten Freunde nicht an neuen Verbindungen, welche zur Verjüngung und Erheiterung des Lebens

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/227>, abgerufen am 27.09.2024.