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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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in solcher historischen Weise bis in seine tiefsten und universellen Wurzeln auf¬
zuspüren und anzuerkennen sich gewöhnt hatte, so entsprang hieraus zugleich
mit sein Widerwille gegen jeden kleinlichen Particularismus im Leben, wie
in der Wissenschaft, welcher sich immer hauptsächlich darauf gründet, daß man
die gegenwärtigen Zustände nicht als etwas geschichtlich gewordenes und wer¬
dendes, sondern als einzeln stehende Thatsachen betrachtet, woraus im Leben
beschränkte, engblickende Philisterei, in der Wissenschaft eben so beschränkte und
dumpfe Mikrologie und Schulfuchserei hervorgeht. Sein Auge im Gegentheil
war und blieb immer gerichtet auf die großen universellen Zusammenhänge,
auf die Ströme und Urquellen des geschichtlichen Lebens, insbesondere aber
auf die Wurzeln des Baumes deutscher Nation, die Wurzeln des Wachsthums
dieses Volkes mit seiner männlichen Thatkraft, seiner religiösen Anlage und
seiner unbegrenzten Entwickelbarkeit. Es war seiner Beobachtungsgabe nicht
entgangen, wie die Völker, welche durch Naturinstinct ausgebildetere Manieren,
geschicktere Lebensart, größere Anstelligkeit und Reife bekunden, diejenigen sind,
deren Vorfahren sich in eine bestimmte einseitige Lebensart, enge Denkweise
und abgeschlossene Gefühlssphäre eingewöhnt haben, welche sie gegen eine
tiefere Verinnerlichung des Lebens in neuen Bahnen zukünftiger Entwickelungen
verschlossener macht; wogegen der von Natur weniger abgeschlossene und un¬
fertigere Charakter eine größere Befähigung besitzt, in stetem Fortschreiten zu
neuen und neuen Lebensformen etwas Tieferes und Größeres aus sich zu ent¬
wickeln, als was anfangs in ihm angelegt war. Von solcher Art der unent¬
schiedenen Entwickelbarkeit haben sich in der Geschichte vorzugsweise die ger¬
manischen Völkerschaften gezeigt, und dieses war der Gesichtspunkt, von welchem
aus Rückert das deutsche Wesen auffaßte. Man kann sich daher seine Be¬
friedigung vorstellen, als endlich der lange ersehnte Zeitpunkt eintrat, wo der
wie in unnatürliche Zwangsjacken eingeschnürt gelegene vaterländische Körper
endlich in einem gemeinsamen Retchswesen seine Glieder freier dehnen und
strecken durfte. Denn er war so sehr von der Bevorzugung der deutschen Volks¬
anlage durchdrungen, daß er sich nicht leicht überwinden konnte, irgend etwas
anderes dem gleich zu achten, und dann immer ganz in dem Gefühle des
Prometheus lebte, wie Goethe es diesen aussprechen läßt in der Pandora:
"Des Mannes höchste Würde ist Parteilichkeit." Und dieses gerade bil¬
dete den eigenthümlichen Reiz seiner Persönlichkeit, daß bei der innerlich festen,
ja starren Entschiedenheit dennoch aus seinen Umgangsformen jene tolerante,
milde und auch auf fremde Interessen gern eingehende und ihnen möglichst
gerecht werdende Gesinnung hervorleuchtete. Man darf wohl sagen, daß se'"
Gemüth vorzugsweise befähigt war, auch die zartesten Regungen weiblicher
Seelen durchaus zu verstehen. Daher gingen ihm auch die Freuden eines
häuslichen Stilllebens oder die, welche sich ungesucht bieten im innigen Um-


in solcher historischen Weise bis in seine tiefsten und universellen Wurzeln auf¬
zuspüren und anzuerkennen sich gewöhnt hatte, so entsprang hieraus zugleich
mit sein Widerwille gegen jeden kleinlichen Particularismus im Leben, wie
in der Wissenschaft, welcher sich immer hauptsächlich darauf gründet, daß man
die gegenwärtigen Zustände nicht als etwas geschichtlich gewordenes und wer¬
dendes, sondern als einzeln stehende Thatsachen betrachtet, woraus im Leben
beschränkte, engblickende Philisterei, in der Wissenschaft eben so beschränkte und
dumpfe Mikrologie und Schulfuchserei hervorgeht. Sein Auge im Gegentheil
war und blieb immer gerichtet auf die großen universellen Zusammenhänge,
auf die Ströme und Urquellen des geschichtlichen Lebens, insbesondere aber
auf die Wurzeln des Baumes deutscher Nation, die Wurzeln des Wachsthums
dieses Volkes mit seiner männlichen Thatkraft, seiner religiösen Anlage und
seiner unbegrenzten Entwickelbarkeit. Es war seiner Beobachtungsgabe nicht
entgangen, wie die Völker, welche durch Naturinstinct ausgebildetere Manieren,
geschicktere Lebensart, größere Anstelligkeit und Reife bekunden, diejenigen sind,
deren Vorfahren sich in eine bestimmte einseitige Lebensart, enge Denkweise
und abgeschlossene Gefühlssphäre eingewöhnt haben, welche sie gegen eine
tiefere Verinnerlichung des Lebens in neuen Bahnen zukünftiger Entwickelungen
verschlossener macht; wogegen der von Natur weniger abgeschlossene und un¬
fertigere Charakter eine größere Befähigung besitzt, in stetem Fortschreiten zu
neuen und neuen Lebensformen etwas Tieferes und Größeres aus sich zu ent¬
wickeln, als was anfangs in ihm angelegt war. Von solcher Art der unent¬
schiedenen Entwickelbarkeit haben sich in der Geschichte vorzugsweise die ger¬
manischen Völkerschaften gezeigt, und dieses war der Gesichtspunkt, von welchem
aus Rückert das deutsche Wesen auffaßte. Man kann sich daher seine Be¬
friedigung vorstellen, als endlich der lange ersehnte Zeitpunkt eintrat, wo der
wie in unnatürliche Zwangsjacken eingeschnürt gelegene vaterländische Körper
endlich in einem gemeinsamen Retchswesen seine Glieder freier dehnen und
strecken durfte. Denn er war so sehr von der Bevorzugung der deutschen Volks¬
anlage durchdrungen, daß er sich nicht leicht überwinden konnte, irgend etwas
anderes dem gleich zu achten, und dann immer ganz in dem Gefühle des
Prometheus lebte, wie Goethe es diesen aussprechen läßt in der Pandora:
„Des Mannes höchste Würde ist Parteilichkeit." Und dieses gerade bil¬
dete den eigenthümlichen Reiz seiner Persönlichkeit, daß bei der innerlich festen,
ja starren Entschiedenheit dennoch aus seinen Umgangsformen jene tolerante,
milde und auch auf fremde Interessen gern eingehende und ihnen möglichst
gerecht werdende Gesinnung hervorleuchtete. Man darf wohl sagen, daß se'"
Gemüth vorzugsweise befähigt war, auch die zartesten Regungen weiblicher
Seelen durchaus zu verstehen. Daher gingen ihm auch die Freuden eines
häuslichen Stilllebens oder die, welche sich ungesucht bieten im innigen Um-


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[0222] in solcher historischen Weise bis in seine tiefsten und universellen Wurzeln auf¬ zuspüren und anzuerkennen sich gewöhnt hatte, so entsprang hieraus zugleich mit sein Widerwille gegen jeden kleinlichen Particularismus im Leben, wie in der Wissenschaft, welcher sich immer hauptsächlich darauf gründet, daß man die gegenwärtigen Zustände nicht als etwas geschichtlich gewordenes und wer¬ dendes, sondern als einzeln stehende Thatsachen betrachtet, woraus im Leben beschränkte, engblickende Philisterei, in der Wissenschaft eben so beschränkte und dumpfe Mikrologie und Schulfuchserei hervorgeht. Sein Auge im Gegentheil war und blieb immer gerichtet auf die großen universellen Zusammenhänge, auf die Ströme und Urquellen des geschichtlichen Lebens, insbesondere aber auf die Wurzeln des Baumes deutscher Nation, die Wurzeln des Wachsthums dieses Volkes mit seiner männlichen Thatkraft, seiner religiösen Anlage und seiner unbegrenzten Entwickelbarkeit. Es war seiner Beobachtungsgabe nicht entgangen, wie die Völker, welche durch Naturinstinct ausgebildetere Manieren, geschicktere Lebensart, größere Anstelligkeit und Reife bekunden, diejenigen sind, deren Vorfahren sich in eine bestimmte einseitige Lebensart, enge Denkweise und abgeschlossene Gefühlssphäre eingewöhnt haben, welche sie gegen eine tiefere Verinnerlichung des Lebens in neuen Bahnen zukünftiger Entwickelungen verschlossener macht; wogegen der von Natur weniger abgeschlossene und un¬ fertigere Charakter eine größere Befähigung besitzt, in stetem Fortschreiten zu neuen und neuen Lebensformen etwas Tieferes und Größeres aus sich zu ent¬ wickeln, als was anfangs in ihm angelegt war. Von solcher Art der unent¬ schiedenen Entwickelbarkeit haben sich in der Geschichte vorzugsweise die ger¬ manischen Völkerschaften gezeigt, und dieses war der Gesichtspunkt, von welchem aus Rückert das deutsche Wesen auffaßte. Man kann sich daher seine Be¬ friedigung vorstellen, als endlich der lange ersehnte Zeitpunkt eintrat, wo der wie in unnatürliche Zwangsjacken eingeschnürt gelegene vaterländische Körper endlich in einem gemeinsamen Retchswesen seine Glieder freier dehnen und strecken durfte. Denn er war so sehr von der Bevorzugung der deutschen Volks¬ anlage durchdrungen, daß er sich nicht leicht überwinden konnte, irgend etwas anderes dem gleich zu achten, und dann immer ganz in dem Gefühle des Prometheus lebte, wie Goethe es diesen aussprechen läßt in der Pandora: „Des Mannes höchste Würde ist Parteilichkeit." Und dieses gerade bil¬ dete den eigenthümlichen Reiz seiner Persönlichkeit, daß bei der innerlich festen, ja starren Entschiedenheit dennoch aus seinen Umgangsformen jene tolerante, milde und auch auf fremde Interessen gern eingehende und ihnen möglichst gerecht werdende Gesinnung hervorleuchtete. Man darf wohl sagen, daß se'" Gemüth vorzugsweise befähigt war, auch die zartesten Regungen weiblicher Seelen durchaus zu verstehen. Daher gingen ihm auch die Freuden eines häuslichen Stilllebens oder die, welche sich ungesucht bieten im innigen Um-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/222>, abgerufen am 19.10.2024.