Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Genossenschaften alle Rechte eigner Gestaltung verloren haben. Der Sinn
der Aufhebung sei nur und könne nur sein, daß die Staatsgesetzgebung die
Schranken ihres Eingreifens in kirchliche Dinge lediglich sich selbst zu ziehen
ermächtigt ist, nicht aber verbunden, von außerhalb gezogene Schranken inne¬
zuhalten. Die evangelische Kirche habe also vor wie nach Aufhebung jenes
Artikels das volle Recht, sich zu gestalten, mit der Bedingung, sich dem
Staatsgesetz, soweit sie von demselben berührt werde, zu unterwerfen. Die
Staatsregierung beabsichtige, der neuen Kirchenverfassung gegenüber durch
Staatsgesetz ihre besonderen Cautelen zu nehmen und besondere Punkte der¬
selben an bestimmte Bedingungen zu knüpfen. Wolle der Landtag diese
Cautelen, diese Bedingungen ausdehnen, so stehe der Verhandlung darüber
so wenig im Wege, wie bei jedem andern Gesetz. Der Wortführer der
Interpellanten greift aber überhaupt den rechtlichen Bestand des landes¬
herrlichen Kirchenregimentes an. Der Cultusminister wollte sich zu Gunsten
dieses Bestandes nicht auf eine der bekannten kirchenrechtlichen Theorien be¬
rufen, sondern auf die dreihundertjährige historische Thatsache. Er erinnerte
an die große kirchliche Bekundung des landesherrlichen Regimentes durch den
Aufruf zur Union von 1817. Will man aber dieses Regiment für unver¬
einbar erklären mit der individuellen Religionsfreiheit, so hat es von dieser
Seite eine Bestätigung erhalten, wie man sie nur verlangen kann, durch die
Wahlen zur Kirchenordnung von 1873 und durch die außerordentliche General¬
synode. Die evangelische Gesammtgemeinde der acht preußischen Provinzen
hat also der Kirchenordnung von 1873 und von 1876 zugestimmt. Zum
Schluß betonte der Minister nochmals, daß die Staatsgesetzgebung formell
unbeschränkt sei, in die ihr zur Genehmigung vorliegende Kirchenverfassung
einzugreifen; aber die Gesetzgebung sei gebunden an die materielle Schranke
durch den Gerechtigkeitssinn und die Weisheit der Gesetzgeber. Durch Beachtung
dieser Schranke werde das Haus mit der Regierung einig werden über das staat¬
liche Gesetz zur Genehmigung der Generalsynodalordnung. So der Minister.

Herr Virchow konnte nicht umhin, die Klarheit und Correktheit der Dar¬
legung anzuerkennen. Auf die Besprechung der Jnterpellation verzichtete er
jedoch nur mit Rücksicht auf die eintretende Vertagung des Hauses. Denn
einzelne Punkte der ministeriellen Erklärung blieben ihm anfechtbar. So der
Schluß von der Zulässtgkeit der landesherrlichen Kirchenordnung von 1873
auf die von 1876. In der ersteren habe der Landesherr nur provisorisch, ver¬
möge einer alten Tradition, gehandelt, in der letzteren sich als definitive
Obrigkeit, wenn auch mit gewissen Beschränkungen, constituirt.

Um dies zu verstehen, erinnern wir nochmals an den contra social.
Herr Virchow geht aus von dem Naturrecht der individuellen Religionsfrei¬
heit. Dieses Recht, abgesehen von seinem Ursprung, der nicht in der Natur,


Genossenschaften alle Rechte eigner Gestaltung verloren haben. Der Sinn
der Aufhebung sei nur und könne nur sein, daß die Staatsgesetzgebung die
Schranken ihres Eingreifens in kirchliche Dinge lediglich sich selbst zu ziehen
ermächtigt ist, nicht aber verbunden, von außerhalb gezogene Schranken inne¬
zuhalten. Die evangelische Kirche habe also vor wie nach Aufhebung jenes
Artikels das volle Recht, sich zu gestalten, mit der Bedingung, sich dem
Staatsgesetz, soweit sie von demselben berührt werde, zu unterwerfen. Die
Staatsregierung beabsichtige, der neuen Kirchenverfassung gegenüber durch
Staatsgesetz ihre besonderen Cautelen zu nehmen und besondere Punkte der¬
selben an bestimmte Bedingungen zu knüpfen. Wolle der Landtag diese
Cautelen, diese Bedingungen ausdehnen, so stehe der Verhandlung darüber
so wenig im Wege, wie bei jedem andern Gesetz. Der Wortführer der
Interpellanten greift aber überhaupt den rechtlichen Bestand des landes¬
herrlichen Kirchenregimentes an. Der Cultusminister wollte sich zu Gunsten
dieses Bestandes nicht auf eine der bekannten kirchenrechtlichen Theorien be¬
rufen, sondern auf die dreihundertjährige historische Thatsache. Er erinnerte
an die große kirchliche Bekundung des landesherrlichen Regimentes durch den
Aufruf zur Union von 1817. Will man aber dieses Regiment für unver¬
einbar erklären mit der individuellen Religionsfreiheit, so hat es von dieser
Seite eine Bestätigung erhalten, wie man sie nur verlangen kann, durch die
Wahlen zur Kirchenordnung von 1873 und durch die außerordentliche General¬
synode. Die evangelische Gesammtgemeinde der acht preußischen Provinzen
hat also der Kirchenordnung von 1873 und von 1876 zugestimmt. Zum
Schluß betonte der Minister nochmals, daß die Staatsgesetzgebung formell
unbeschränkt sei, in die ihr zur Genehmigung vorliegende Kirchenverfassung
einzugreifen; aber die Gesetzgebung sei gebunden an die materielle Schranke
durch den Gerechtigkeitssinn und die Weisheit der Gesetzgeber. Durch Beachtung
dieser Schranke werde das Haus mit der Regierung einig werden über das staat¬
liche Gesetz zur Genehmigung der Generalsynodalordnung. So der Minister.

Herr Virchow konnte nicht umhin, die Klarheit und Correktheit der Dar¬
legung anzuerkennen. Auf die Besprechung der Jnterpellation verzichtete er
jedoch nur mit Rücksicht auf die eintretende Vertagung des Hauses. Denn
einzelne Punkte der ministeriellen Erklärung blieben ihm anfechtbar. So der
Schluß von der Zulässtgkeit der landesherrlichen Kirchenordnung von 1873
auf die von 1876. In der ersteren habe der Landesherr nur provisorisch, ver¬
möge einer alten Tradition, gehandelt, in der letzteren sich als definitive
Obrigkeit, wenn auch mit gewissen Beschränkungen, constituirt.

Um dies zu verstehen, erinnern wir nochmals an den contra social.
Herr Virchow geht aus von dem Naturrecht der individuellen Religionsfrei¬
heit. Dieses Recht, abgesehen von seinem Ursprung, der nicht in der Natur,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0202" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/135255"/>
          <p xml:id="ID_551" prev="#ID_550"> Genossenschaften alle Rechte eigner Gestaltung verloren haben. Der Sinn<lb/>
der Aufhebung sei nur und könne nur sein, daß die Staatsgesetzgebung die<lb/>
Schranken ihres Eingreifens in kirchliche Dinge lediglich sich selbst zu ziehen<lb/>
ermächtigt ist, nicht aber verbunden, von außerhalb gezogene Schranken inne¬<lb/>
zuhalten. Die evangelische Kirche habe also vor wie nach Aufhebung jenes<lb/>
Artikels das volle Recht, sich zu gestalten, mit der Bedingung, sich dem<lb/>
Staatsgesetz, soweit sie von demselben berührt werde, zu unterwerfen. Die<lb/>
Staatsregierung beabsichtige, der neuen Kirchenverfassung gegenüber durch<lb/>
Staatsgesetz ihre besonderen Cautelen zu nehmen und besondere Punkte der¬<lb/>
selben an bestimmte Bedingungen zu knüpfen. Wolle der Landtag diese<lb/>
Cautelen, diese Bedingungen ausdehnen, so stehe der Verhandlung darüber<lb/>
so wenig im Wege, wie bei jedem andern Gesetz. Der Wortführer der<lb/>
Interpellanten greift aber überhaupt den rechtlichen Bestand des landes¬<lb/>
herrlichen Kirchenregimentes an. Der Cultusminister wollte sich zu Gunsten<lb/>
dieses Bestandes nicht auf eine der bekannten kirchenrechtlichen Theorien be¬<lb/>
rufen, sondern auf die dreihundertjährige historische Thatsache. Er erinnerte<lb/>
an die große kirchliche Bekundung des landesherrlichen Regimentes durch den<lb/>
Aufruf zur Union von 1817. Will man aber dieses Regiment für unver¬<lb/>
einbar erklären mit der individuellen Religionsfreiheit, so hat es von dieser<lb/>
Seite eine Bestätigung erhalten, wie man sie nur verlangen kann, durch die<lb/>
Wahlen zur Kirchenordnung von 1873 und durch die außerordentliche General¬<lb/>
synode. Die evangelische Gesammtgemeinde der acht preußischen Provinzen<lb/>
hat also der Kirchenordnung von 1873 und von 1876 zugestimmt. Zum<lb/>
Schluß betonte der Minister nochmals, daß die Staatsgesetzgebung formell<lb/>
unbeschränkt sei, in die ihr zur Genehmigung vorliegende Kirchenverfassung<lb/>
einzugreifen; aber die Gesetzgebung sei gebunden an die materielle Schranke<lb/>
durch den Gerechtigkeitssinn und die Weisheit der Gesetzgeber. Durch Beachtung<lb/>
dieser Schranke werde das Haus mit der Regierung einig werden über das staat¬<lb/>
liche Gesetz zur Genehmigung der Generalsynodalordnung. So der Minister.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_552"> Herr Virchow konnte nicht umhin, die Klarheit und Correktheit der Dar¬<lb/>
legung anzuerkennen. Auf die Besprechung der Jnterpellation verzichtete er<lb/>
jedoch nur mit Rücksicht auf die eintretende Vertagung des Hauses. Denn<lb/>
einzelne Punkte der ministeriellen Erklärung blieben ihm anfechtbar. So der<lb/>
Schluß von der Zulässtgkeit der landesherrlichen Kirchenordnung von 1873<lb/>
auf die von 1876. In der ersteren habe der Landesherr nur provisorisch, ver¬<lb/>
möge einer alten Tradition, gehandelt, in der letzteren sich als definitive<lb/>
Obrigkeit, wenn auch mit gewissen Beschränkungen, constituirt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_553" next="#ID_554"> Um dies zu verstehen, erinnern wir nochmals an den contra social.<lb/>
Herr Virchow geht aus von dem Naturrecht der individuellen Religionsfrei¬<lb/>
heit. Dieses Recht, abgesehen von seinem Ursprung, der nicht in der Natur,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0202] Genossenschaften alle Rechte eigner Gestaltung verloren haben. Der Sinn der Aufhebung sei nur und könne nur sein, daß die Staatsgesetzgebung die Schranken ihres Eingreifens in kirchliche Dinge lediglich sich selbst zu ziehen ermächtigt ist, nicht aber verbunden, von außerhalb gezogene Schranken inne¬ zuhalten. Die evangelische Kirche habe also vor wie nach Aufhebung jenes Artikels das volle Recht, sich zu gestalten, mit der Bedingung, sich dem Staatsgesetz, soweit sie von demselben berührt werde, zu unterwerfen. Die Staatsregierung beabsichtige, der neuen Kirchenverfassung gegenüber durch Staatsgesetz ihre besonderen Cautelen zu nehmen und besondere Punkte der¬ selben an bestimmte Bedingungen zu knüpfen. Wolle der Landtag diese Cautelen, diese Bedingungen ausdehnen, so stehe der Verhandlung darüber so wenig im Wege, wie bei jedem andern Gesetz. Der Wortführer der Interpellanten greift aber überhaupt den rechtlichen Bestand des landes¬ herrlichen Kirchenregimentes an. Der Cultusminister wollte sich zu Gunsten dieses Bestandes nicht auf eine der bekannten kirchenrechtlichen Theorien be¬ rufen, sondern auf die dreihundertjährige historische Thatsache. Er erinnerte an die große kirchliche Bekundung des landesherrlichen Regimentes durch den Aufruf zur Union von 1817. Will man aber dieses Regiment für unver¬ einbar erklären mit der individuellen Religionsfreiheit, so hat es von dieser Seite eine Bestätigung erhalten, wie man sie nur verlangen kann, durch die Wahlen zur Kirchenordnung von 1873 und durch die außerordentliche General¬ synode. Die evangelische Gesammtgemeinde der acht preußischen Provinzen hat also der Kirchenordnung von 1873 und von 1876 zugestimmt. Zum Schluß betonte der Minister nochmals, daß die Staatsgesetzgebung formell unbeschränkt sei, in die ihr zur Genehmigung vorliegende Kirchenverfassung einzugreifen; aber die Gesetzgebung sei gebunden an die materielle Schranke durch den Gerechtigkeitssinn und die Weisheit der Gesetzgeber. Durch Beachtung dieser Schranke werde das Haus mit der Regierung einig werden über das staat¬ liche Gesetz zur Genehmigung der Generalsynodalordnung. So der Minister. Herr Virchow konnte nicht umhin, die Klarheit und Correktheit der Dar¬ legung anzuerkennen. Auf die Besprechung der Jnterpellation verzichtete er jedoch nur mit Rücksicht auf die eintretende Vertagung des Hauses. Denn einzelne Punkte der ministeriellen Erklärung blieben ihm anfechtbar. So der Schluß von der Zulässtgkeit der landesherrlichen Kirchenordnung von 1873 auf die von 1876. In der ersteren habe der Landesherr nur provisorisch, ver¬ möge einer alten Tradition, gehandelt, in der letzteren sich als definitive Obrigkeit, wenn auch mit gewissen Beschränkungen, constituirt. Um dies zu verstehen, erinnern wir nochmals an den contra social. Herr Virchow geht aus von dem Naturrecht der individuellen Religionsfrei¬ heit. Dieses Recht, abgesehen von seinem Ursprung, der nicht in der Natur,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/202
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/202>, abgerufen am 27.09.2024.