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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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im Gefängnisse sitzt, möchtet ihr wohl der Vogel sein, der mit freiem Flügel
das Blau des Himmels spaltet; wenn man euch auspfänden will, möchtet
ihr wohl jene häßliche Schnecke sein, der niemand ihr Haus streitig macht.
Die Thiere sind weder einäugig, noch buckelig, noch krummbeinig, auch haben
sie keine Angst vor der Hölle." Onkel Benjamin war achtundzwanzig Jahre
alt und trieb seit drei Jahren die Heilkunst, die ihn aber nicht reich gemacht
hatte -- "im Gegentheil: er schuldete drei scharlachrothe Fräcke seinem Tuch¬
händler, drei Jahre Haarfrisur seinem Perückenmacher, und er hatte in jedem
der wohlberufensten Wirthshäuser der Stadt eine kleine Rechnung, von welcher
höchstens einige Hausmittel in Abzug kamen." Seine Schwester, die drei
Jahre älter als er war, betrachtete sich als seinen Hofmeister. Sie kaufte
ihm seine Hals- und Taschentücher, flickte ihm seine Hemden und gab ihm
gute Rathschläge, die er sehr aufmerksam anhörte, von denen er aber nicht
den geringsten Gebrauch machte. Alle Abende regelmäßig nach dem Nacht¬
essen forderte sie ihn auf, ein Weib zu nehmen, aber stets wies er ihren Ernst
mit Possen zurück.

Andere lustige Nebenpersonen sind die Zechgenossen Onkel Benjamin's
der Advocat Pagina, der seine Vertheidigungsreden nie anders als in der
Weinbegeisterung zwischen einer getrunkenen und einer zu trinkenden Flasche
hält, der Procurator Raspel, der einen Klienten, von dem er ein Fäßchen
säuerlichen Weines zum Geschenk erhalten, vorladen läßt um ihn zur Lieferung
eines besseren anzuhalten, der Notar Arthus, der einen ganzen Lachs zum
Nachtisch essen kann, Millo-Ratto, Schneider und Poet dazu, Verfasser der
großen Litanei "Kniee, ihr Christen, kniet nieder", die so schön ist, "daß der
heilige Geist selbst sie ihm eingegeben haben muß," Herr Minrit, ein Arzt
aus der Nachbarschaft, der als Urinbeschauer Geschäfte macht, ein Gerichts¬
schreiber, der sich gewöhnt hat, im Schlafe zu schreiben, und ein alter Archi¬
tekt, der seit zwanzig Jahren nicht mehr nüchtern geworden ist.

Ein Vorfall bei der Feier des Sanct Yves-Tages durch diese Gesellschaft
bewegt die Großmutter des Verfassers, die Verheirat!)ung ihres fideler und
ausgelassnen Bruders ernstlicher zu betreiben. Benjamin Rathery hat sich in
der Weinlaune mit seinem Schwager Beißkurz duellirt und dabei einen kleinen
"Auschnitt" an der Hand davon getragen. Beißkurz ist von ihm für diese
Heldenthat zum Waffenmeister vorgeschlagen und die Ernennung mit noch
etlichen Flaschen feierlich begangen worden, worauf man nach Hause wankt.
Inzwischen hat das Gerücht die kleine Wunde in die Stadt getragen und sie
von Mund zu Mund vergrößert, bis sie zu einer Ermordung Benjamin's
durch seinen Schwager angeschwollen ist. In dieser Gestalt gelangt das Ge¬
rücht zu Frau Beißkvrz. Rasch entschlossen rafft die kleine Frau Mittel zu¬
sammen, die ihrem Mann zur Flucht verhelfen sollen, und macht sich mit


im Gefängnisse sitzt, möchtet ihr wohl der Vogel sein, der mit freiem Flügel
das Blau des Himmels spaltet; wenn man euch auspfänden will, möchtet
ihr wohl jene häßliche Schnecke sein, der niemand ihr Haus streitig macht.
Die Thiere sind weder einäugig, noch buckelig, noch krummbeinig, auch haben
sie keine Angst vor der Hölle." Onkel Benjamin war achtundzwanzig Jahre
alt und trieb seit drei Jahren die Heilkunst, die ihn aber nicht reich gemacht
hatte — „im Gegentheil: er schuldete drei scharlachrothe Fräcke seinem Tuch¬
händler, drei Jahre Haarfrisur seinem Perückenmacher, und er hatte in jedem
der wohlberufensten Wirthshäuser der Stadt eine kleine Rechnung, von welcher
höchstens einige Hausmittel in Abzug kamen." Seine Schwester, die drei
Jahre älter als er war, betrachtete sich als seinen Hofmeister. Sie kaufte
ihm seine Hals- und Taschentücher, flickte ihm seine Hemden und gab ihm
gute Rathschläge, die er sehr aufmerksam anhörte, von denen er aber nicht
den geringsten Gebrauch machte. Alle Abende regelmäßig nach dem Nacht¬
essen forderte sie ihn auf, ein Weib zu nehmen, aber stets wies er ihren Ernst
mit Possen zurück.

Andere lustige Nebenpersonen sind die Zechgenossen Onkel Benjamin's
der Advocat Pagina, der seine Vertheidigungsreden nie anders als in der
Weinbegeisterung zwischen einer getrunkenen und einer zu trinkenden Flasche
hält, der Procurator Raspel, der einen Klienten, von dem er ein Fäßchen
säuerlichen Weines zum Geschenk erhalten, vorladen läßt um ihn zur Lieferung
eines besseren anzuhalten, der Notar Arthus, der einen ganzen Lachs zum
Nachtisch essen kann, Millo-Ratto, Schneider und Poet dazu, Verfasser der
großen Litanei „Kniee, ihr Christen, kniet nieder", die so schön ist, „daß der
heilige Geist selbst sie ihm eingegeben haben muß," Herr Minrit, ein Arzt
aus der Nachbarschaft, der als Urinbeschauer Geschäfte macht, ein Gerichts¬
schreiber, der sich gewöhnt hat, im Schlafe zu schreiben, und ein alter Archi¬
tekt, der seit zwanzig Jahren nicht mehr nüchtern geworden ist.

Ein Vorfall bei der Feier des Sanct Yves-Tages durch diese Gesellschaft
bewegt die Großmutter des Verfassers, die Verheirat!)ung ihres fideler und
ausgelassnen Bruders ernstlicher zu betreiben. Benjamin Rathery hat sich in
der Weinlaune mit seinem Schwager Beißkurz duellirt und dabei einen kleinen
„Auschnitt" an der Hand davon getragen. Beißkurz ist von ihm für diese
Heldenthat zum Waffenmeister vorgeschlagen und die Ernennung mit noch
etlichen Flaschen feierlich begangen worden, worauf man nach Hause wankt.
Inzwischen hat das Gerücht die kleine Wunde in die Stadt getragen und sie
von Mund zu Mund vergrößert, bis sie zu einer Ermordung Benjamin's
durch seinen Schwager angeschwollen ist. In dieser Gestalt gelangt das Ge¬
rücht zu Frau Beißkvrz. Rasch entschlossen rafft die kleine Frau Mittel zu¬
sammen, die ihrem Mann zur Flucht verhelfen sollen, und macht sich mit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/186>, abgerufen am 22.07.2024.