Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.Kinder. Das alles lebte von dem kargen Einkommen meines Großvaters Mittelpunkt und Gipfel dieser vergnügten Gegend einer lustigen und Grenzboten I. 187V. 23
Kinder. Das alles lebte von dem kargen Einkommen meines Großvaters Mittelpunkt und Gipfel dieser vergnügten Gegend einer lustigen und Grenzboten I. 187V. 23
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Kinder. Das alles lebte von dem kargen Einkommen meines Großvaters
und befand sich vortrefflich. Man aß zu sieben an drei Häringen, aber man
hatte Brot nach Belieben und in einem kleinen Weinberge eine unerschöpfliche
Quelle weißen Weines. Alle Kinder wurden, je nach Alter und Kräften,
verwendet. Der älteste, der mein Vater wurde, hieß Kaspar, er spülte das
Geschirr und ging zur Fleischbank, kein Pudel in der Stadt war besser dres-
strt als er. Der jüngere kehrte die Stube, das dritte Kind hatte das vierte
auf dem Arme, und während das fünfte sich in seiner Wiege wälzte, befand
sich ein sechstes bereits auf dem Wege. Unterdeß war meine Großmutter in
der Kirche oder schwatzte bei der Nachbarin."
Mittelpunkt und Gipfel dieser vergnügten Gegend einer lustigen und
behaglichen Welt war Benjamin Nathery, der Großonkel des Verfassers.
Er wohnte bei seiner Schwester. Sechs Fuß drei Zoll lang, trug er einen
Frack von scharlachrothen Radin, Hosen vom selben Stoffe und derselben
Farbe, perlgraue seidene Strümpfe, Schuhe mit silbernen Schnallen und an
der Seite einen langen Degen. Auf seinem Fracke tänzelte, fast so lang
wie der Degen, ein schwarzer Zopf, der, in unaufhörlichem Gehen und Kom¬
men begriffen, jenes Kleid so mit Puder dünnste, daß es mit seinen rothen
und weißen Schattirungen aussah wie ein aufrecht stehender Backstein, der
sich schiefere. Onkel Benjamin war Arzt, und deshalb trug er einen Degen.
Er hatte wenig Glauben an die Heilkunst und meinte oft, ein Arzt habe
schon genug gethan, wenn er seine Kranken nicht umgebracht habe, und der
Nutzen der Aerzte bestehe hauptsächlich darin, daß sie Uebervölkerung ver¬
hüteten. Er war der drolligste und witzigste Mann des Ortes, und er wäre
auch der am wenigsten nüchterne gewesen, wenn der Stadttrommler, Cicero
geheißen, seinen Ruhm in dieser Beziehung nicht getheilt hätte. Indeß war
er keineswegs ein Trunkenbold, sondern nur ein Epicuräer, der die Philo¬
sophie bis zur Trunkenheit trieb. „Er hatte einen Magen voll Adel und Würde.
Er liebte den Wein nicht um des Trinkens willen, sondern wegen jener Narr-
heit von einigen Stunden, die er verschafft, und die aus geistreichen Men¬
schen solch reizenden und originellen Unsinn spricht, daß wir zufrieden wären,
wenn der Sinn immer so sprechen wollte. Hätte er sich mit Messelesen be¬
rauschen können, er hätte alle Tage Messe gelesen." „Die Vernunft", sagte
er, „ist nichts. Sie ist nur das Vermögen, die gegenwärtigen Uebel zu
spüren, der vergangnen sich zu erinnern und die zukünftigen vorauszusehen.
Das Vorrecht, seine Vernunft abzudanken, ist allein etwas. Ihr sagt, daß
der Mensch, welcher seine Vernunft im Wein ertränkt, sich zum Thier herab¬
würdige. Das ist der reine Kastengeist. Glaubt ihr denn, daß die Lage des
Thieres schlimmer sei als die eurige? Wenn euch der Hunger plagt, möchtet
ihr wohl der Ochse sein, der im Grase weidet bis an den Bauch; wenn ihr
Grenzboten I. 187V. 23
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