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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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Leben davon kommen; denn gerade auf dem ganz spurlosen Verschwinden
des Schiffes beruhte die Sicherheit des Thäters, die Wahrscheinlichkeit
einer künftigen anstandlosen und gewinnbringenden Wiederholung des Ver¬
brechens. *)

Vielleicht wird man einwenden, und es ist dies oft auch wohl schon
anderwärts geltend gemacht: Thomas hatte doch nicht die Absicht einen
bestimmten oder mehrere bestimmte Menschen zu todten. Aber ist dies
zum Begriffe des Mordes nöthig? Im Strafgesetzbuch ist nur die Rede von
Tödtung "eines Menschen", nicht davon, daß der Schuldige gerade auf ein
ganz bestimmtes Individuum es abgesehen und dieses auch getödtet haben
müsse. Für die gewöhnlichen Fälle trifft die letztere Annahme freilich zu.
Gewöhnlich will der Mörder nur ein ganz bestimmtes Individuum oder
mehrere bestimmte Individuen treffen; denn gewöhnlich richten sich sogleich
die Motive des Mörders gegen ein bestimmtes Individuum. Allein warum
sollte nicht auch Mord in dem Falle angenommen werden, daß Jemand eine
Mitrailleuse auf einen dichten Menschenknäuel abfeuert, wohl wissend, daß er
den Umständen nach einer Anzahl von Menschen das Leben nehmen werde,
wenn es ihm auch gleichgültig ist, Wen die Kugeln gerade treffen werden?
Daß eine solche Handlung, sobald eine Person dabei das Leben verliert,
Mord sei, daran zweifelt z. B. die englisch-amerikanische Jurisprudenz nicht,
und auch wir haben keinen Grund, obwohl unser Mordbegriff ein etwas
engerer ist, als der des englisch-amerikanischen Rechts, hier den Begriff des
Mordes abzuweisen. Wer in der angeführten Weise handelt, verdient wahr¬
lich keine mildere, sondern eher eine strengere Bestrafung, als Derjenige, der
nur gegen ein bestimmtes Individuum thätig wird. Seine Nichtachtung des
menschlichen Lebens ist eine viel größere, und warum in aller Welt sollten
wir dann eine solche Unterscheidung in das Strafgesetz hineintragen? Der
Rechtsordnung muß doch das eine Individuum gerade so viel werth sein
wie das andere, und die bloße factische Seltenheit einer so ruchlosen Hand¬
lung kann doch zu jener Unterscheidung keinen Grund abgeben. Möglich,
daß der Gesetzgeber an dergleichen Fälle nicht gedacht hat. Es gilt nun



") In dem citirten Artikel des Reichsanzeigers vom 20. December v. I. wird noch be¬
merkt, Thomas' Absicht sei deßhalb nicht auf Tödtung gerichtet gewesen, weil seine Absicht
auch erreicht worden wäre, wenn -- B. wegen Seegefahr -- der Dampfer von der Explosion
von allen Insassen desselben verlassen worden wäre. Bei der Berücksichtigung solcher extra¬
ordinärer Möglichkeiten, die übrigens auch der Thäter selbst nie bedenkt, müßte conse-
quent, auch Wer Brand legt, um bei der während des Brandes entstehenden Verwurung zu
stehlen, sich (wenn er beim Versuche entdeckt wird) daraus berufen können: "Ich hatte gar
nicht die Absicht der Brandstiftung. Wenn, bevor das Feuer zum Ausbruche kam, alle Men¬
schen da" Haus verlassen und alle Thüren vorher geöffnet hätten, so hätte ich meine Absicht
zu stehlen auch ohne Brand erreicht."

Leben davon kommen; denn gerade auf dem ganz spurlosen Verschwinden
des Schiffes beruhte die Sicherheit des Thäters, die Wahrscheinlichkeit
einer künftigen anstandlosen und gewinnbringenden Wiederholung des Ver¬
brechens. *)

Vielleicht wird man einwenden, und es ist dies oft auch wohl schon
anderwärts geltend gemacht: Thomas hatte doch nicht die Absicht einen
bestimmten oder mehrere bestimmte Menschen zu todten. Aber ist dies
zum Begriffe des Mordes nöthig? Im Strafgesetzbuch ist nur die Rede von
Tödtung „eines Menschen", nicht davon, daß der Schuldige gerade auf ein
ganz bestimmtes Individuum es abgesehen und dieses auch getödtet haben
müsse. Für die gewöhnlichen Fälle trifft die letztere Annahme freilich zu.
Gewöhnlich will der Mörder nur ein ganz bestimmtes Individuum oder
mehrere bestimmte Individuen treffen; denn gewöhnlich richten sich sogleich
die Motive des Mörders gegen ein bestimmtes Individuum. Allein warum
sollte nicht auch Mord in dem Falle angenommen werden, daß Jemand eine
Mitrailleuse auf einen dichten Menschenknäuel abfeuert, wohl wissend, daß er
den Umständen nach einer Anzahl von Menschen das Leben nehmen werde,
wenn es ihm auch gleichgültig ist, Wen die Kugeln gerade treffen werden?
Daß eine solche Handlung, sobald eine Person dabei das Leben verliert,
Mord sei, daran zweifelt z. B. die englisch-amerikanische Jurisprudenz nicht,
und auch wir haben keinen Grund, obwohl unser Mordbegriff ein etwas
engerer ist, als der des englisch-amerikanischen Rechts, hier den Begriff des
Mordes abzuweisen. Wer in der angeführten Weise handelt, verdient wahr¬
lich keine mildere, sondern eher eine strengere Bestrafung, als Derjenige, der
nur gegen ein bestimmtes Individuum thätig wird. Seine Nichtachtung des
menschlichen Lebens ist eine viel größere, und warum in aller Welt sollten
wir dann eine solche Unterscheidung in das Strafgesetz hineintragen? Der
Rechtsordnung muß doch das eine Individuum gerade so viel werth sein
wie das andere, und die bloße factische Seltenheit einer so ruchlosen Hand¬
lung kann doch zu jener Unterscheidung keinen Grund abgeben. Möglich,
daß der Gesetzgeber an dergleichen Fälle nicht gedacht hat. Es gilt nun



") In dem citirten Artikel des Reichsanzeigers vom 20. December v. I. wird noch be¬
merkt, Thomas' Absicht sei deßhalb nicht auf Tödtung gerichtet gewesen, weil seine Absicht
auch erreicht worden wäre, wenn — B. wegen Seegefahr — der Dampfer von der Explosion
von allen Insassen desselben verlassen worden wäre. Bei der Berücksichtigung solcher extra¬
ordinärer Möglichkeiten, die übrigens auch der Thäter selbst nie bedenkt, müßte conse-
quent, auch Wer Brand legt, um bei der während des Brandes entstehenden Verwurung zu
stehlen, sich (wenn er beim Versuche entdeckt wird) daraus berufen können: „Ich hatte gar
nicht die Absicht der Brandstiftung. Wenn, bevor das Feuer zum Ausbruche kam, alle Men¬
schen da« Haus verlassen und alle Thüren vorher geöffnet hätten, so hätte ich meine Absicht
zu stehlen auch ohne Brand erreicht."
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[0174] Leben davon kommen; denn gerade auf dem ganz spurlosen Verschwinden des Schiffes beruhte die Sicherheit des Thäters, die Wahrscheinlichkeit einer künftigen anstandlosen und gewinnbringenden Wiederholung des Ver¬ brechens. *) Vielleicht wird man einwenden, und es ist dies oft auch wohl schon anderwärts geltend gemacht: Thomas hatte doch nicht die Absicht einen bestimmten oder mehrere bestimmte Menschen zu todten. Aber ist dies zum Begriffe des Mordes nöthig? Im Strafgesetzbuch ist nur die Rede von Tödtung „eines Menschen", nicht davon, daß der Schuldige gerade auf ein ganz bestimmtes Individuum es abgesehen und dieses auch getödtet haben müsse. Für die gewöhnlichen Fälle trifft die letztere Annahme freilich zu. Gewöhnlich will der Mörder nur ein ganz bestimmtes Individuum oder mehrere bestimmte Individuen treffen; denn gewöhnlich richten sich sogleich die Motive des Mörders gegen ein bestimmtes Individuum. Allein warum sollte nicht auch Mord in dem Falle angenommen werden, daß Jemand eine Mitrailleuse auf einen dichten Menschenknäuel abfeuert, wohl wissend, daß er den Umständen nach einer Anzahl von Menschen das Leben nehmen werde, wenn es ihm auch gleichgültig ist, Wen die Kugeln gerade treffen werden? Daß eine solche Handlung, sobald eine Person dabei das Leben verliert, Mord sei, daran zweifelt z. B. die englisch-amerikanische Jurisprudenz nicht, und auch wir haben keinen Grund, obwohl unser Mordbegriff ein etwas engerer ist, als der des englisch-amerikanischen Rechts, hier den Begriff des Mordes abzuweisen. Wer in der angeführten Weise handelt, verdient wahr¬ lich keine mildere, sondern eher eine strengere Bestrafung, als Derjenige, der nur gegen ein bestimmtes Individuum thätig wird. Seine Nichtachtung des menschlichen Lebens ist eine viel größere, und warum in aller Welt sollten wir dann eine solche Unterscheidung in das Strafgesetz hineintragen? Der Rechtsordnung muß doch das eine Individuum gerade so viel werth sein wie das andere, und die bloße factische Seltenheit einer so ruchlosen Hand¬ lung kann doch zu jener Unterscheidung keinen Grund abgeben. Möglich, daß der Gesetzgeber an dergleichen Fälle nicht gedacht hat. Es gilt nun ") In dem citirten Artikel des Reichsanzeigers vom 20. December v. I. wird noch be¬ merkt, Thomas' Absicht sei deßhalb nicht auf Tödtung gerichtet gewesen, weil seine Absicht auch erreicht worden wäre, wenn — B. wegen Seegefahr — der Dampfer von der Explosion von allen Insassen desselben verlassen worden wäre. Bei der Berücksichtigung solcher extra¬ ordinärer Möglichkeiten, die übrigens auch der Thäter selbst nie bedenkt, müßte conse- quent, auch Wer Brand legt, um bei der während des Brandes entstehenden Verwurung zu stehlen, sich (wenn er beim Versuche entdeckt wird) daraus berufen können: „Ich hatte gar nicht die Absicht der Brandstiftung. Wenn, bevor das Feuer zum Ausbruche kam, alle Men¬ schen da« Haus verlassen und alle Thüren vorher geöffnet hätten, so hätte ich meine Absicht zu stehlen auch ohne Brand erreicht."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/174>, abgerufen am 25.08.2024.