Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.solle. Die kirchenrechtliche Bedeutung der Bekenntnisse in der evangelischen solle. Die kirchenrechtliche Bedeutung der Bekenntnisse in der evangelischen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0156" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/135209"/> <p xml:id="ID_428" prev="#ID_427" next="#ID_429"> solle. Die kirchenrechtliche Bedeutung der Bekenntnisse in der evangelischen<lb/> Kirche gehört aber zu jenen Streitfragen, um die sich eine Entwicklung mit<lb/> ihren Kämpfen Jahrhunderte hindurch bewegt. Weder in dem Erlaß vom<lb/> 10. Septbr. noch in der Generalsynodalordnung ist gesagt, und hat nicht ge¬<lb/> sagt werden können, es solle niemals auf dem Wege der Verfassung die<lb/> Streitfrage über die kirchenrechtliche Bedeutung der Bekenntnisse geregelt<lb/> werden. Man nehme aber noch folgendes hinzu. Ehe noch die Specialdis-<lb/> cussion der Synodalordnung begonnen hatte und ehe noch jener Zusatz zum<lb/> § 1 als Antrag eingebracht werden konnte, äußerte sich am letzten Tage der<lb/> Generaldiscusfion in der 5. Sitzung der Synode der Präsident des Ober¬<lb/> kirchenraths über die Bekenntnißfrage in höchst bemerkenswerther Weise. Er<lb/> bestätigte, daß das Verfassungsgesetz den Bekenntnißstand überall unberührt<lb/> lasse, empfahl aber, eine besondere Bestimmung in der Verfassung, daß auch<lb/> künftig der Bekenntnißstand nicht berührt werden solle, zu vermeiden. Eine<lb/> solche Bestimmung würde zu unlösbaren Streitigkeiten Veranlassung geben,<lb/> während doch bindende Glaubenssätze überhaupt nur von einem mit Jnfalli-<lb/> bilität bekleideten Organ beschlossen werden könnten, wie es die evangelische<lb/> Kirche nicht kenne. Aus dieser Erklärung folgt nach einer unausweigbaren<lb/> Auslegung, daß auch die Bekenntnisse der Reformation nicht als bindende<lb/> Glaubenssätze zu betrachten sind. Denn die Reformatoren haben die Jnfalli-<lb/> bilität niemals beansprucht und Niemand wagt, sie ihnen beizulegen. Darnach<lb/> kann es in der evangelischen Kirche keine Norm geben, wie geglaubt werden<lb/> muß, sondern nur eine Norm, wie mit kirchlicher Autorität gelehrt werden<lb/> soll, um zum rechten Glauben anzuleiten. Die Regelung der kirchlichen Lehr¬<lb/> freiheit legt aber die neue Verfassung ausdrücklich der kirchlichen Gesetzgebung<lb/> bei, nicht minder die ordinatorische Verpflichtung der Geistlichen und nicht<lb/> minder die zu allgemeinem landeskirchlichem Gebrauch bestimmten Katechismus¬<lb/> erklärungen, Religionslehrbücher, Gesangbücher und agendarischen Normen.<lb/> Die Bekenntnisse sind in der evangelischen Kirche zur Zeit der Reformation Er¬<lb/> kennungszeichen der Gleichgesinnten gewesen und sind jetzt Erkennungszeichen<lb/> des historischen Ursprunges der evangelischen Kirche, aber sie sind nur mi߬<lb/> bräuchlich zu bindenden Glaubensnormen erhoben worden. Diesem Mißbrauch<lb/> seine Grenzen anzuweisen, wird Sache der kirchlichen Lehrentwicklung sein, die<lb/> unter der kirchlichen Gesetzgebung steht. Damit scheint uns die Bekenntni߬<lb/> frage richtig gelöst, wenn auch in minder entschiedener Weise, als ich in meiner<lb/> Schrift „das deutsche Reich und die kirchliche Frage" für wünschenswert!) ge¬<lb/> halten habe. Dort wollte ich das Gesetzgebungsrecht über die Bekenntnisse<lb/> unmittelbar ausgesprochen wissen. Mit den seitdem veröffentlichten Be¬<lb/> stimmungen der Generalsynodalordnung kann aber nach der vorstehenden Aus¬<lb/> führung das Nämliche als erreicht gelten. Man nehme zu dem bereits An-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0156]
solle. Die kirchenrechtliche Bedeutung der Bekenntnisse in der evangelischen
Kirche gehört aber zu jenen Streitfragen, um die sich eine Entwicklung mit
ihren Kämpfen Jahrhunderte hindurch bewegt. Weder in dem Erlaß vom
10. Septbr. noch in der Generalsynodalordnung ist gesagt, und hat nicht ge¬
sagt werden können, es solle niemals auf dem Wege der Verfassung die
Streitfrage über die kirchenrechtliche Bedeutung der Bekenntnisse geregelt
werden. Man nehme aber noch folgendes hinzu. Ehe noch die Specialdis-
cussion der Synodalordnung begonnen hatte und ehe noch jener Zusatz zum
§ 1 als Antrag eingebracht werden konnte, äußerte sich am letzten Tage der
Generaldiscusfion in der 5. Sitzung der Synode der Präsident des Ober¬
kirchenraths über die Bekenntnißfrage in höchst bemerkenswerther Weise. Er
bestätigte, daß das Verfassungsgesetz den Bekenntnißstand überall unberührt
lasse, empfahl aber, eine besondere Bestimmung in der Verfassung, daß auch
künftig der Bekenntnißstand nicht berührt werden solle, zu vermeiden. Eine
solche Bestimmung würde zu unlösbaren Streitigkeiten Veranlassung geben,
während doch bindende Glaubenssätze überhaupt nur von einem mit Jnfalli-
bilität bekleideten Organ beschlossen werden könnten, wie es die evangelische
Kirche nicht kenne. Aus dieser Erklärung folgt nach einer unausweigbaren
Auslegung, daß auch die Bekenntnisse der Reformation nicht als bindende
Glaubenssätze zu betrachten sind. Denn die Reformatoren haben die Jnfalli-
bilität niemals beansprucht und Niemand wagt, sie ihnen beizulegen. Darnach
kann es in der evangelischen Kirche keine Norm geben, wie geglaubt werden
muß, sondern nur eine Norm, wie mit kirchlicher Autorität gelehrt werden
soll, um zum rechten Glauben anzuleiten. Die Regelung der kirchlichen Lehr¬
freiheit legt aber die neue Verfassung ausdrücklich der kirchlichen Gesetzgebung
bei, nicht minder die ordinatorische Verpflichtung der Geistlichen und nicht
minder die zu allgemeinem landeskirchlichem Gebrauch bestimmten Katechismus¬
erklärungen, Religionslehrbücher, Gesangbücher und agendarischen Normen.
Die Bekenntnisse sind in der evangelischen Kirche zur Zeit der Reformation Er¬
kennungszeichen der Gleichgesinnten gewesen und sind jetzt Erkennungszeichen
des historischen Ursprunges der evangelischen Kirche, aber sie sind nur mi߬
bräuchlich zu bindenden Glaubensnormen erhoben worden. Diesem Mißbrauch
seine Grenzen anzuweisen, wird Sache der kirchlichen Lehrentwicklung sein, die
unter der kirchlichen Gesetzgebung steht. Damit scheint uns die Bekenntni߬
frage richtig gelöst, wenn auch in minder entschiedener Weise, als ich in meiner
Schrift „das deutsche Reich und die kirchliche Frage" für wünschenswert!) ge¬
halten habe. Dort wollte ich das Gesetzgebungsrecht über die Bekenntnisse
unmittelbar ausgesprochen wissen. Mit den seitdem veröffentlichten Be¬
stimmungen der Generalsynodalordnung kann aber nach der vorstehenden Aus¬
führung das Nämliche als erreicht gelten. Man nehme zu dem bereits An-
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