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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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Bedingungen der Zugehörigkeit zur evangelischen Landeskirche richtig bestimmt
sein werden, so kann auf die angenommene Erweiterung des Wahlrechts
nicht allzuviel ankommen, während dieselbe dem Vorurtheil der öffentlichen
Meinung auf unschädliche Weise nachgiebt.

Der eigentliche Cardinalpunkt der ganzen Verfassung ist offenbar die
Frage, ob das kirchliche Gesetzgebungsrecht, welches mit dieser Verfassung die
evangelische Kirche seit dem Jahrhundert der Reformation zum ersten Mal
wieder an sich nimmt, den Bekenntnißstand umfassen soll. Diese Frage wird
seltsamer Weise gleich heftig verneint von allen Schätzungen des Liberalis¬
mus und von den Fanatikern der Orthodoxie. Bei den Letzteren ist die Ver¬
neinung begreiflich und consequent, sie wollen die Herrschaft des Bekenntni߬
buchstabens für ewige Zeiten aufrechthalten. Der kirchliche Liberalismus aber
weiß wieder einmal nicht, was er thut. Der antikirchliche Liberalismus, der
in Sachen der Kirche nur das Wort nimmt, um die Kirche zu vernichten, er
weiß freilich, was er thut. Indem er den Organen der evangelischen Landes¬
kirche das Gesetzgebungsrecht entzieht, will er damit nicht den Buchstaben des
Bekenntnisses befestigen, sondern vielmehr die Souveränität jeder Lokalgemeinde
aufrichten. Man darf den Herren, die dies fordern, wohl so viel Scharf¬
blick zutrauen, daß sie wissen, daß die Folge dieses Jndependentismus die
frazzenhafte Verzerrung der Religion sein würde und damit ihr Untergang
im höheren geistigen Leben. Den Scharfblick aber haben die Herren natürlich
nicht, daß mit dem Herabsinken der Religion zu Aberglauben und Spielerei
der Untergang der höheren Geistescultur besiegelt ist.

Wenden wir uns von diesem antikirchlichen Liberalismus zu dem kirch¬
lichen Liberalismus des Protestantenvereins, so will derselbe ja den Untergang
der Kirche nicht. Aber die Logik dieses Vereins ist längst als eine undurch¬
dringliche Kunst bekannt. Der einzige Vertreter des Protestantenvereins auf
der Generalsynode that es allen Orthodoxen zuvor mit der Lebhaftigkeit seines
Protestes gegen den Einfluß der kirchlichen Gesetzgebung aus die Bekenntnisse.
Was mag der Herr sich wohl gedacht haben? Glaubt er die formelle Geltung
der alten Bekenntnisse sei leicht zu ertragen, weil man an ihre Verletzung ge¬
wöhnt sei? Dies wäre ein frivoler Standpunkt. Man begehrt und schafft
eine Kirchenverfassung vor allem zu dem Zweck, der Kirche die Wahrheit
zurückzugeben, die ihr Lebenselement ist. Es mag aber auch außerhalb des
Protestantenvereins eine Zahl nicht gerade kirchenfeindlicher, sondern wohl¬
meinender, aber gedankenschwacher Liberalen geben, die da meinen, das Gesetz¬
gebungsrecht der Kirche über die Bekenntnisse werde zu einem neuen Bekennt¬
nißzwang führen. Als ob in der Geltung der alten Bekenntnisse, mit der
Ernst gemacht werden muß, wenn ihr nicht ein Ende gemacht wird, nicht der
schlimmste Zwang läge. Die Wahrheit ist aber, daß mit dem Gesetzgebungs-


Bedingungen der Zugehörigkeit zur evangelischen Landeskirche richtig bestimmt
sein werden, so kann auf die angenommene Erweiterung des Wahlrechts
nicht allzuviel ankommen, während dieselbe dem Vorurtheil der öffentlichen
Meinung auf unschädliche Weise nachgiebt.

Der eigentliche Cardinalpunkt der ganzen Verfassung ist offenbar die
Frage, ob das kirchliche Gesetzgebungsrecht, welches mit dieser Verfassung die
evangelische Kirche seit dem Jahrhundert der Reformation zum ersten Mal
wieder an sich nimmt, den Bekenntnißstand umfassen soll. Diese Frage wird
seltsamer Weise gleich heftig verneint von allen Schätzungen des Liberalis¬
mus und von den Fanatikern der Orthodoxie. Bei den Letzteren ist die Ver¬
neinung begreiflich und consequent, sie wollen die Herrschaft des Bekenntni߬
buchstabens für ewige Zeiten aufrechthalten. Der kirchliche Liberalismus aber
weiß wieder einmal nicht, was er thut. Der antikirchliche Liberalismus, der
in Sachen der Kirche nur das Wort nimmt, um die Kirche zu vernichten, er
weiß freilich, was er thut. Indem er den Organen der evangelischen Landes¬
kirche das Gesetzgebungsrecht entzieht, will er damit nicht den Buchstaben des
Bekenntnisses befestigen, sondern vielmehr die Souveränität jeder Lokalgemeinde
aufrichten. Man darf den Herren, die dies fordern, wohl so viel Scharf¬
blick zutrauen, daß sie wissen, daß die Folge dieses Jndependentismus die
frazzenhafte Verzerrung der Religion sein würde und damit ihr Untergang
im höheren geistigen Leben. Den Scharfblick aber haben die Herren natürlich
nicht, daß mit dem Herabsinken der Religion zu Aberglauben und Spielerei
der Untergang der höheren Geistescultur besiegelt ist.

Wenden wir uns von diesem antikirchlichen Liberalismus zu dem kirch¬
lichen Liberalismus des Protestantenvereins, so will derselbe ja den Untergang
der Kirche nicht. Aber die Logik dieses Vereins ist längst als eine undurch¬
dringliche Kunst bekannt. Der einzige Vertreter des Protestantenvereins auf
der Generalsynode that es allen Orthodoxen zuvor mit der Lebhaftigkeit seines
Protestes gegen den Einfluß der kirchlichen Gesetzgebung aus die Bekenntnisse.
Was mag der Herr sich wohl gedacht haben? Glaubt er die formelle Geltung
der alten Bekenntnisse sei leicht zu ertragen, weil man an ihre Verletzung ge¬
wöhnt sei? Dies wäre ein frivoler Standpunkt. Man begehrt und schafft
eine Kirchenverfassung vor allem zu dem Zweck, der Kirche die Wahrheit
zurückzugeben, die ihr Lebenselement ist. Es mag aber auch außerhalb des
Protestantenvereins eine Zahl nicht gerade kirchenfeindlicher, sondern wohl¬
meinender, aber gedankenschwacher Liberalen geben, die da meinen, das Gesetz¬
gebungsrecht der Kirche über die Bekenntnisse werde zu einem neuen Bekennt¬
nißzwang führen. Als ob in der Geltung der alten Bekenntnisse, mit der
Ernst gemacht werden muß, wenn ihr nicht ein Ende gemacht wird, nicht der
schlimmste Zwang läge. Die Wahrheit ist aber, daß mit dem Gesetzgebungs-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/154>, abgerufen am 27.09.2024.