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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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Schmausen. Denn wenig entsprach der reichliche Vorrath an vorgefundenen
Lebensmitteln den Schilderungen burgundischer Ausreißer von dem Mangel
im Heere des Herzogs. Das eroberte Geschütz, 63 Stücke, wurde freund¬
brüderlich vertheilt"), aber mit der übrigen Beute ging es, aller Verordnun-
gen ungeachtet, sehr willkürlich zu; jeder nahm, was er kriegen konnte; ja
es geschah, daß die Plünderer sich sogar über den Troß ihres eigenen Ver¬
bündeten, des Herzogs von Lothringen, hermachten, -- was er, der sich so¬
gleich in Karl's Feldpalast mit fürstlichem Behagen einnistete, in seiner jovi¬
alen Laune lachend zugab. Kein Leid widerfuhr den Weibern, weder den
Ehefrauen, die ihren Männern ins Feld nachgefolgt waren und Kaufmann¬
schaft trieben, noch den fahrenden Dirnen, deren sich, trotz Karl's Verbot,
u>ehe weniger als 3000 im Lager fanden.

Die Zahl der auf der Wahlstatt vorgefundenen oder aus dem See ge¬
zogenen Todten wird, wohl sehr übertrieben, auf 22,700 angegeben, "da¬
runter auch Mohren aus Afrika.""*) -- Verhängnißvoll aber war der Ver¬
lust an Vassallen. "Wie einst bei Sempach die Blüthe der süddeutschen
Ritterschaft in den Staub gesunken, so wurde bei Murten die Zierde des
burgundischen und flandrischen Adels ausgelöscht, die Säule des Feudalismus
Jura und in der Waal gestürzt; viele edle Geschlechter für immer aus
dem Buch des Lebens und der Geschichte getilgt."***) Die Verbündeten be-
rechneten ihren Verlust an Todten auf S00, an Verwundeten auf 600 Mann,
^asel und Bern befahlen in der Folge, daß alljährlich der Zehntausend-
^'ttertag gefeiert und der "Murtenstreit" von der Kanzel verlesen werden sollte,
^is zum 4. März 1798 hat auch eine Kapelle, in welche die Gebeine der Er¬
schlagenen gesammelt waren, die Ueberlieferung des Sieges von Geschlecht
zu Geschlecht fortgepflanzt." 1) Dann wurde sie von einer Halbbrigade frän¬
kischer Republikaner als Denkmal einer ihrer Niederlagen zerstört.

Ich bin in Auffassung und Darstellung dieser Schlacht in allen wesent¬
lichen Punkten der Schilderung des Hauptmanns Emanuel v. Rott gefolgt,
obwohl dieselbe von der früher giltigen Betrachtungsweise vollkommen abweicht.
^- Rott belegt indessen jede einzelne Stelle seiner Darstellung mit so über¬
zeugenden Quellenangaben, daß sie vollkommen glaubwürdig ist und man






') Es hat als "Murtenstücke" jahrhundertelang die Zeughäuser der Schweiz geschmückt bis
von den französischen Republikanern entführt wurde.
"
) Schilling. Der wirkliche Todten-Verlust der Burgunder dürfte nur 8 bis 10 Tausend
tragen haben.
Weber: Geschichte des Mittelalters. 4. Band.
"
1> Die Inschrift lautete: v. 0. N. virroli, iuolM se torti3"lui Lüi'Aunäws üuvis
^ol'viens Uol'kenn odsiclorl" Iroe sui rnovumeQtum reliouit. -- Im I. 1822 ließ die Frei-
tnger Regierung eine Viertelstunde von Murten an der Straße nach Pavcrne ein neues Denk-
"U" in Gestalt einer 22 Meter hohen Spihscmle errichten.

Schmausen. Denn wenig entsprach der reichliche Vorrath an vorgefundenen
Lebensmitteln den Schilderungen burgundischer Ausreißer von dem Mangel
im Heere des Herzogs. Das eroberte Geschütz, 63 Stücke, wurde freund¬
brüderlich vertheilt"), aber mit der übrigen Beute ging es, aller Verordnun-
gen ungeachtet, sehr willkürlich zu; jeder nahm, was er kriegen konnte; ja
es geschah, daß die Plünderer sich sogar über den Troß ihres eigenen Ver¬
bündeten, des Herzogs von Lothringen, hermachten, — was er, der sich so¬
gleich in Karl's Feldpalast mit fürstlichem Behagen einnistete, in seiner jovi¬
alen Laune lachend zugab. Kein Leid widerfuhr den Weibern, weder den
Ehefrauen, die ihren Männern ins Feld nachgefolgt waren und Kaufmann¬
schaft trieben, noch den fahrenden Dirnen, deren sich, trotz Karl's Verbot,
u>ehe weniger als 3000 im Lager fanden.

Die Zahl der auf der Wahlstatt vorgefundenen oder aus dem See ge¬
zogenen Todten wird, wohl sehr übertrieben, auf 22,700 angegeben, „da¬
runter auch Mohren aus Afrika.""*) — Verhängnißvoll aber war der Ver¬
lust an Vassallen. „Wie einst bei Sempach die Blüthe der süddeutschen
Ritterschaft in den Staub gesunken, so wurde bei Murten die Zierde des
burgundischen und flandrischen Adels ausgelöscht, die Säule des Feudalismus
Jura und in der Waal gestürzt; viele edle Geschlechter für immer aus
dem Buch des Lebens und der Geschichte getilgt."***) Die Verbündeten be-
rechneten ihren Verlust an Todten auf S00, an Verwundeten auf 600 Mann,
^asel und Bern befahlen in der Folge, daß alljährlich der Zehntausend-
^'ttertag gefeiert und der „Murtenstreit" von der Kanzel verlesen werden sollte,
^is zum 4. März 1798 hat auch eine Kapelle, in welche die Gebeine der Er¬
schlagenen gesammelt waren, die Ueberlieferung des Sieges von Geschlecht
zu Geschlecht fortgepflanzt." 1) Dann wurde sie von einer Halbbrigade frän¬
kischer Republikaner als Denkmal einer ihrer Niederlagen zerstört.

Ich bin in Auffassung und Darstellung dieser Schlacht in allen wesent¬
lichen Punkten der Schilderung des Hauptmanns Emanuel v. Rott gefolgt,
obwohl dieselbe von der früher giltigen Betrachtungsweise vollkommen abweicht.
^- Rott belegt indessen jede einzelne Stelle seiner Darstellung mit so über¬
zeugenden Quellenangaben, daß sie vollkommen glaubwürdig ist und man






') Es hat als „Murtenstücke" jahrhundertelang die Zeughäuser der Schweiz geschmückt bis
von den französischen Republikanern entführt wurde.
"
) Schilling. Der wirkliche Todten-Verlust der Burgunder dürfte nur 8 bis 10 Tausend
tragen haben.
Weber: Geschichte des Mittelalters. 4. Band.
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1> Die Inschrift lautete: v. 0. N. virroli, iuolM se torti3»lui Lüi'Aunäws üuvis
^ol'viens Uol'kenn odsiclorl» Iroe sui rnovumeQtum reliouit. — Im I. 1822 ließ die Frei-
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"U" in Gestalt einer 22 Meter hohen Spihscmle errichten.
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[0119] Schmausen. Denn wenig entsprach der reichliche Vorrath an vorgefundenen Lebensmitteln den Schilderungen burgundischer Ausreißer von dem Mangel im Heere des Herzogs. Das eroberte Geschütz, 63 Stücke, wurde freund¬ brüderlich vertheilt"), aber mit der übrigen Beute ging es, aller Verordnun- gen ungeachtet, sehr willkürlich zu; jeder nahm, was er kriegen konnte; ja es geschah, daß die Plünderer sich sogar über den Troß ihres eigenen Ver¬ bündeten, des Herzogs von Lothringen, hermachten, — was er, der sich so¬ gleich in Karl's Feldpalast mit fürstlichem Behagen einnistete, in seiner jovi¬ alen Laune lachend zugab. Kein Leid widerfuhr den Weibern, weder den Ehefrauen, die ihren Männern ins Feld nachgefolgt waren und Kaufmann¬ schaft trieben, noch den fahrenden Dirnen, deren sich, trotz Karl's Verbot, u>ehe weniger als 3000 im Lager fanden. Die Zahl der auf der Wahlstatt vorgefundenen oder aus dem See ge¬ zogenen Todten wird, wohl sehr übertrieben, auf 22,700 angegeben, „da¬ runter auch Mohren aus Afrika.""*) — Verhängnißvoll aber war der Ver¬ lust an Vassallen. „Wie einst bei Sempach die Blüthe der süddeutschen Ritterschaft in den Staub gesunken, so wurde bei Murten die Zierde des burgundischen und flandrischen Adels ausgelöscht, die Säule des Feudalismus Jura und in der Waal gestürzt; viele edle Geschlechter für immer aus dem Buch des Lebens und der Geschichte getilgt."***) Die Verbündeten be- rechneten ihren Verlust an Todten auf S00, an Verwundeten auf 600 Mann, ^asel und Bern befahlen in der Folge, daß alljährlich der Zehntausend- ^'ttertag gefeiert und der „Murtenstreit" von der Kanzel verlesen werden sollte, ^is zum 4. März 1798 hat auch eine Kapelle, in welche die Gebeine der Er¬ schlagenen gesammelt waren, die Ueberlieferung des Sieges von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt." 1) Dann wurde sie von einer Halbbrigade frän¬ kischer Republikaner als Denkmal einer ihrer Niederlagen zerstört. Ich bin in Auffassung und Darstellung dieser Schlacht in allen wesent¬ lichen Punkten der Schilderung des Hauptmanns Emanuel v. Rott gefolgt, obwohl dieselbe von der früher giltigen Betrachtungsweise vollkommen abweicht. ^- Rott belegt indessen jede einzelne Stelle seiner Darstellung mit so über¬ zeugenden Quellenangaben, daß sie vollkommen glaubwürdig ist und man ') Es hat als „Murtenstücke" jahrhundertelang die Zeughäuser der Schweiz geschmückt bis von den französischen Republikanern entführt wurde. " ) Schilling. Der wirkliche Todten-Verlust der Burgunder dürfte nur 8 bis 10 Tausend tragen haben. Weber: Geschichte des Mittelalters. 4. Band. " 1> Die Inschrift lautete: v. 0. N. virroli, iuolM se torti3»lui Lüi'Aunäws üuvis ^ol'viens Uol'kenn odsiclorl» Iroe sui rnovumeQtum reliouit. — Im I. 1822 ließ die Frei- tnger Regierung eine Viertelstunde von Murten an der Straße nach Pavcrne ein neues Denk- "U" in Gestalt einer 22 Meter hohen Spihscmle errichten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/119>, abgerufen am 25.07.2024.