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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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euch 40 Millionen kaufen und lesen sie denn aber? Der wohlhabende
Deutsche faßt eher den Entschluß, sich einen Backzahn ausziehen zu lassen,
als ein Buch zu kaufen. Und wieviele der Leser unserer Bücher lernen denn
wirklich daraus? Allenfalls die Redacteure weitverbreiteter Zeitschriften
können etwas Erkleckliches thun, an solche richten Sie Ihr Verlangen. --
Wir treten ins Redactionszimmer einer großen Zeitung, warten eine Stunde
und erhalten dann den kurzen Bescheid: gehört nicht in unser Ressort, wir
befassen uns nur mit Politik, Tagesbegebenheiten, Literatur und Kunst. ---
Einer der Mitredacteure, der das Gespräch angehört, folgt uns und flüstert
aus der Treppe: Klopfen Sie bei den Herausgebern von Volksblättern
an. -- Wir scheuen auch diesen Versuch nicht, kommen endlich zu Worte,
kaum hat aber der geschäftsüberladene Machthaber unser Anliegen halb ge¬
hört, halb errathen, so unterbricht er: Noch mehr sanitätische Rathschläge,
als wir bereits seit jeher geben, verlangen Sie von unsrem Blatte? Sind
Sie bei Troste, lieber Mann? fragen Sie doch nur herum, wer solche Artikel
vorzugsweise liest. Nicht die Jugend, nicht die Vater, Mütter, Lehrer. Er¬
zieher, sondern die kränkelnden Onkels und hysterischen Tanten, denen nicht
zu helfen ist, Jeder sucht sich blos das, was in seinen Kram paßt, saugt
einige neue hypochondrische Schrullen heraus und bleibt so klug wie zuvor.
Die Volksvertretung sollte sich der Sache annehmen. Ich danke Ihnen
übrigens für Ihre freundliche Theilnahme. Leben Sie wohl. -- Unsere letzte
Zuflucht ist eine Petition an den Reichstag, zehn Bogen stark, illustrirt durch
bildliche Darstellungen, u. A. eine deutsche Schulstube, eine Proletarier¬
wohnung, einen greisen Bureaubeamten ze. Das Schriftstück erregt bei der
PetitionScoinmisfion viel "Heiterkeit" und erhöht das Gebirge der Eingaben
um 2/2 Centimeter.--

Wann jener negative Competenzconflikt zur Entscheidung kommt, läßt
sich nicht absehen, deßhalb sei der Antrag gestellt: thue ein Jeder, der sich
dazu befähigt fühlt, als ob er auch berufen wäre, einzugreifen, und suche
mündlich, schriftlich, gedruckt für die Sache zu wirken, so weit seine Kräfte
reichen. Gewinne er nur einen einzigen Gefinnungs- und Thäligkeitsgenofsen,
O. G. so hat er sich nicht vergeblich bemüht.




euch 40 Millionen kaufen und lesen sie denn aber? Der wohlhabende
Deutsche faßt eher den Entschluß, sich einen Backzahn ausziehen zu lassen,
als ein Buch zu kaufen. Und wieviele der Leser unserer Bücher lernen denn
wirklich daraus? Allenfalls die Redacteure weitverbreiteter Zeitschriften
können etwas Erkleckliches thun, an solche richten Sie Ihr Verlangen. —
Wir treten ins Redactionszimmer einer großen Zeitung, warten eine Stunde
und erhalten dann den kurzen Bescheid: gehört nicht in unser Ressort, wir
befassen uns nur mit Politik, Tagesbegebenheiten, Literatur und Kunst. —-
Einer der Mitredacteure, der das Gespräch angehört, folgt uns und flüstert
aus der Treppe: Klopfen Sie bei den Herausgebern von Volksblättern
an. — Wir scheuen auch diesen Versuch nicht, kommen endlich zu Worte,
kaum hat aber der geschäftsüberladene Machthaber unser Anliegen halb ge¬
hört, halb errathen, so unterbricht er: Noch mehr sanitätische Rathschläge,
als wir bereits seit jeher geben, verlangen Sie von unsrem Blatte? Sind
Sie bei Troste, lieber Mann? fragen Sie doch nur herum, wer solche Artikel
vorzugsweise liest. Nicht die Jugend, nicht die Vater, Mütter, Lehrer. Er¬
zieher, sondern die kränkelnden Onkels und hysterischen Tanten, denen nicht
zu helfen ist, Jeder sucht sich blos das, was in seinen Kram paßt, saugt
einige neue hypochondrische Schrullen heraus und bleibt so klug wie zuvor.
Die Volksvertretung sollte sich der Sache annehmen. Ich danke Ihnen
übrigens für Ihre freundliche Theilnahme. Leben Sie wohl. — Unsere letzte
Zuflucht ist eine Petition an den Reichstag, zehn Bogen stark, illustrirt durch
bildliche Darstellungen, u. A. eine deutsche Schulstube, eine Proletarier¬
wohnung, einen greisen Bureaubeamten ze. Das Schriftstück erregt bei der
PetitionScoinmisfion viel „Heiterkeit" und erhöht das Gebirge der Eingaben
um 2/2 Centimeter.--

Wann jener negative Competenzconflikt zur Entscheidung kommt, läßt
sich nicht absehen, deßhalb sei der Antrag gestellt: thue ein Jeder, der sich
dazu befähigt fühlt, als ob er auch berufen wäre, einzugreifen, und suche
mündlich, schriftlich, gedruckt für die Sache zu wirken, so weit seine Kräfte
reichen. Gewinne er nur einen einzigen Gefinnungs- und Thäligkeitsgenofsen,
O. G. so hat er sich nicht vergeblich bemüht.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/102>, abgerufen am 23.07.2024.