Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.harten aufbringt, was die Kräfte des Arbeitenden vermögen, darf sich unser Eben darum wird jeder, dem die Wohlfahrt des Ganzen, das nicht blos Was aber ist dagegen zu thun? Moralpredigten haben nie etwas ge¬ Es ist nicht zu leugnen, die immer tiefer greifende Umwälzung und Neu¬ harten aufbringt, was die Kräfte des Arbeitenden vermögen, darf sich unser Eben darum wird jeder, dem die Wohlfahrt des Ganzen, das nicht blos Was aber ist dagegen zu thun? Moralpredigten haben nie etwas ge¬ Es ist nicht zu leugnen, die immer tiefer greifende Umwälzung und Neu¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0487" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/134305"/> <p xml:id="ID_1497" prev="#ID_1496"> harten aufbringt, was die Kräfte des Arbeitenden vermögen, darf sich unser<lb/> Volk glücklich preisen. Ob der absolute Werth dieser Arbeit so hoch stehe,<lb/> wie ihr Astractionswerth in den Augen ihres Verfertigers. ist dagegen von<lb/> viel minderem Belang. Das Hauptsächliche bleibt, daß der Arbeiter'das volle<lb/> Einsetzen seiner Kraft für eine Ausübung der höchsten, seinem Begriffskreise<lb/> zugänglichen Tugend hair.</p><lb/> <p xml:id="ID_1498"> Eben darum wird jeder, dem die Wohlfahrt des Ganzen, das nicht blos<lb/> scheinbare, sondern wirkliche Gedeihen seines Volkes eine Herzenssache ist, jede<lb/> Störung in diesem idealen Pathos unserer Volksseele für eine schwere Schä¬<lb/> digung der ernstesten Interessen halten. Wenn der Begriff der Ehrlichkeit so<lb/> gänzlich plebejisirt wird, daß er nichts weiter besagt, als ehrlich sei derjenige,<lb/> der keinen Diebstahl begeht, allenfalls ein werthvolles Fundstück wieder an<lb/> seinen rechtmäßigen Besitzer zu bringen sucht, der zu keinem offenbaren Betrug,<lb/> keinem eigentlichen Gaunerstückchen die Hand bietet, so ist eine bedenkliche<lb/> Degradation im innersten Heiligthum der Volksseele eingetreten. Und gestehen<lb/> wir es offen, es will uns manchmal scheinen, als neige sich unsere Zeit immer<lb/> mehr dazu, als beziehe sich namentlich das Verständniß für die Hoheit des<lb/> Begriffes ehrlicher Arbeit mit immer dichterem Nebelschleier, der ihn endlich ganz<lb/> zu verdunkeln droht.</p><lb/> <p xml:id="ID_1499"> Was aber ist dagegen zu thun? Moralpredigten haben nie etwas ge¬<lb/> leuchtet und werden heute nicht einmal von denen, auf die sie zielen, an¬<lb/> gehört. Eine gründliche Umstimmung in der Gesinnung der Massen kann<lb/> nur die Folge langsam wirkender und tiefgreifender Evolutionen in der Ge¬<lb/> sellschaft und im Denken sein. Einstweilen bleibt nichts, als das Uebel offen<lb/> anzuerkennen, und es wo möglich auf seine eigentlichen Quellen zurückzuver-<lb/> folgen und in dieser wahrhaft „ehrlichen Arbeit" können sich Viele die Hände<lb/> reichen, wenn nur jeder in dem ihm nächstliegenden Lebenskreise die Augen<lb/> aufthut. Haben wir erst eine genügende Einsicht in die Entstehung des<lb/> Uebels gewonnen, so wollen wir uns zwar nicht der Illusion so manchen<lb/> Arztes hingeben, der damit die Krankheit schon halb besiegt glaubt, aber<lb/> wir dürfen doch in aller Bescheidenheit annehmen, daß manche unklare Begriffe<lb/> geklärt, manche Verworrenheit des Urtheils und im Gefolge davon manches<lb/> unsichere Tasten im Handeln vermieden werde.</p><lb/> <p xml:id="ID_1500"> Es ist nicht zu leugnen, die immer tiefer greifende Umwälzung und Neu¬<lb/> gestaltung aller unserer gesellschaftlichen Zustände hat von selbst viel dazu<lb/> beigetragen, den Begriff „ehrliche Arbeit" unserem weniger nach vergleichender<lb/> Zusammenstellung verschiedener Eindrücke als nach einem einzigen, der dem<lb/> Vorstellungskreise zunächst liegt, urtheilenden gemeinen Mann zu verdunkeln.<lb/> 50 — 60 Jahre früher, als noch die „alte Zeit" die ganze Oberfläche des<lb/> Lebens beherrschte, theilte er alle Leute in solche, die arbeiten und die nicht<lb/> arbeiten. Unter Arbeiten verstand er eine Thätigkeit, deren Erfordernisse er<lb/> zu beurtheilen befähigt war, also in jedem Fall ein gewisses Maß körperlicher<lb/> Anstrengung. Jede 'andere Thätigkeit galt ihm nicht als wirkliche Arbeit.<lb/> Die ganze Sphäre der intellectuellen Begriffskreise z, B. war nach seiner<lb/> Meinung mehr oder minder eine sonderbare Lurusanstalt, die allenfalls für<lb/> die müssigen Reichen und Vornehmen „die Herren" passen mochte, nicht aber<lb/> für ihn, der allein wirklich arbeiten mußte, um sein Brod zu verdienen, d. h.<lb/> Weib und Kind zu ernähren. Hätte man gefragt, so würde man zur Ant¬<lb/> wort erhalten haben, daß nur bei ihm und seines gleichen von „ehrlicher<lb/> Arbeit" die Rede sein könne, denn was die Herren trieben, sei keine Arbeit,<lb/> sondern nur eine Art Spielerei oder Zeitvertreib.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0487]
harten aufbringt, was die Kräfte des Arbeitenden vermögen, darf sich unser
Volk glücklich preisen. Ob der absolute Werth dieser Arbeit so hoch stehe,
wie ihr Astractionswerth in den Augen ihres Verfertigers. ist dagegen von
viel minderem Belang. Das Hauptsächliche bleibt, daß der Arbeiter'das volle
Einsetzen seiner Kraft für eine Ausübung der höchsten, seinem Begriffskreise
zugänglichen Tugend hair.
Eben darum wird jeder, dem die Wohlfahrt des Ganzen, das nicht blos
scheinbare, sondern wirkliche Gedeihen seines Volkes eine Herzenssache ist, jede
Störung in diesem idealen Pathos unserer Volksseele für eine schwere Schä¬
digung der ernstesten Interessen halten. Wenn der Begriff der Ehrlichkeit so
gänzlich plebejisirt wird, daß er nichts weiter besagt, als ehrlich sei derjenige,
der keinen Diebstahl begeht, allenfalls ein werthvolles Fundstück wieder an
seinen rechtmäßigen Besitzer zu bringen sucht, der zu keinem offenbaren Betrug,
keinem eigentlichen Gaunerstückchen die Hand bietet, so ist eine bedenkliche
Degradation im innersten Heiligthum der Volksseele eingetreten. Und gestehen
wir es offen, es will uns manchmal scheinen, als neige sich unsere Zeit immer
mehr dazu, als beziehe sich namentlich das Verständniß für die Hoheit des
Begriffes ehrlicher Arbeit mit immer dichterem Nebelschleier, der ihn endlich ganz
zu verdunkeln droht.
Was aber ist dagegen zu thun? Moralpredigten haben nie etwas ge¬
leuchtet und werden heute nicht einmal von denen, auf die sie zielen, an¬
gehört. Eine gründliche Umstimmung in der Gesinnung der Massen kann
nur die Folge langsam wirkender und tiefgreifender Evolutionen in der Ge¬
sellschaft und im Denken sein. Einstweilen bleibt nichts, als das Uebel offen
anzuerkennen, und es wo möglich auf seine eigentlichen Quellen zurückzuver-
folgen und in dieser wahrhaft „ehrlichen Arbeit" können sich Viele die Hände
reichen, wenn nur jeder in dem ihm nächstliegenden Lebenskreise die Augen
aufthut. Haben wir erst eine genügende Einsicht in die Entstehung des
Uebels gewonnen, so wollen wir uns zwar nicht der Illusion so manchen
Arztes hingeben, der damit die Krankheit schon halb besiegt glaubt, aber
wir dürfen doch in aller Bescheidenheit annehmen, daß manche unklare Begriffe
geklärt, manche Verworrenheit des Urtheils und im Gefolge davon manches
unsichere Tasten im Handeln vermieden werde.
Es ist nicht zu leugnen, die immer tiefer greifende Umwälzung und Neu¬
gestaltung aller unserer gesellschaftlichen Zustände hat von selbst viel dazu
beigetragen, den Begriff „ehrliche Arbeit" unserem weniger nach vergleichender
Zusammenstellung verschiedener Eindrücke als nach einem einzigen, der dem
Vorstellungskreise zunächst liegt, urtheilenden gemeinen Mann zu verdunkeln.
50 — 60 Jahre früher, als noch die „alte Zeit" die ganze Oberfläche des
Lebens beherrschte, theilte er alle Leute in solche, die arbeiten und die nicht
arbeiten. Unter Arbeiten verstand er eine Thätigkeit, deren Erfordernisse er
zu beurtheilen befähigt war, also in jedem Fall ein gewisses Maß körperlicher
Anstrengung. Jede 'andere Thätigkeit galt ihm nicht als wirkliche Arbeit.
Die ganze Sphäre der intellectuellen Begriffskreise z, B. war nach seiner
Meinung mehr oder minder eine sonderbare Lurusanstalt, die allenfalls für
die müssigen Reichen und Vornehmen „die Herren" passen mochte, nicht aber
für ihn, der allein wirklich arbeiten mußte, um sein Brod zu verdienen, d. h.
Weib und Kind zu ernähren. Hätte man gefragt, so würde man zur Ant¬
wort erhalten haben, daß nur bei ihm und seines gleichen von „ehrlicher
Arbeit" die Rede sein könne, denn was die Herren trieben, sei keine Arbeit,
sondern nur eine Art Spielerei oder Zeitvertreib.
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