Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.nicht schuld; diese knüpfen sich stets an die Namen hervorragender Geister, nicht schuld; diese knüpfen sich stets an die Namen hervorragender Geister, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0381" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/134199"/> <p xml:id="ID_1213" prev="#ID_1212" next="#ID_1214"> nicht schuld; diese knüpfen sich stets an die Namen hervorragender Geister,<lb/> an die Ferse des Genius; er schafft das Neue, und die Massen theilen sich in<lb/> die Beute und können dabei — verthieren. Die Statistik und die National-<lb/> öconvmie, zwei moderne Wissenschaften, dazu geschaffen, den socialen Fort¬<lb/> schritt zu constatiren, vielleicht sogar, ihn zu befördern, haben sich wohl zu<lb/> hüten, aus der wachsenden Prosperität sofort auf Häufung des moralischen<lb/> Fonds zu schließen; ein Zeitalter der ausgesprochensten Capitalherrschaft,<lb/> welches Capital nicht auf gesunder Basis zu productiven Anlagen verwendet,<lb/> sondern im Dienste der ungesundesten Speculation an Chimären vergeudet<lb/> und dem tollen Wahne schneller Bereicherung hingeopfert wird, ein Zeit¬<lb/> alter des Schwindels und Gründerthums, welches selbst die Jünger der<lb/> Wissenschaft zwingt nach dem goldenen Vließ zu steuern, und welches selber<lb/> seine sämmtlichen Schiffe auf dem Wege ebendahin unter der Flagge „Zeit<lb/> ist Geld" führt — ein solches hat bereits, ohne es zu wissen, moralischen<lb/> Schiffbruch gelitten, und mögen auch seine Fahrzeuge mit allen möglichen<lb/> schönen Farben, der „allgemeinen Volksbildung", der „gegenseitigen Ver¬<lb/> sicherung" des „allgemeinen Stimmrechtes", der „Preß- und Redefreiheit" und<lb/> der „Philanthropie" angestrichen sein; von der sittlichen Vogelperspective aus<lb/> betrachtet nimmt sich dieses Getreibe gar nicht fortschrittlich, es nimmt sich<lb/> eher wie Uncultur und Barbarei aus, und der wahre Fortschritt, der nicht<lb/> blos und nicht in erster Linie nach Zahlen rechnet, muß sich ob solchem<lb/> Anblick das Haupt verhüllen. Es stimmt vollständig zu dieser Signatur,<lb/> wenn unter den Wissenschaften nur diejenigen Curs haben, welche dem armen<lb/> lieben Leibesleben zu Hülfe kommen, welche Wohlstand und Capital vermehren<lb/> und ihren eigenen Jüngern in erster Linie reichliche Prozente versprechen: die<lb/> Handelswissens es äst sucht sich mit großem Selbstbewußtsein in den Reigen<lb/> der ältern und vornehmeren Schwestern einzudrängen; die Alterthumswissen¬<lb/> schaft und ihre Anhängsel werden, weil gar zu unpraktisch und wenig lebens¬<lb/> fähig, als ..überwundener Standpunkt" betrachtet, und es gilt nicht mehr<lb/> als ein Zeichen des Unverstandes, sondern der modernen Bildung, wenn man<lb/> gegenüber den Ansprüchen der Philologen mit der tiefsinnigen Bemerkung,<lb/> daß „ihre Wissenschaft den Bedürfnissen der Neuzeit nicht genügend Rechnung<lb/> trage" zur Tagesordnung übergeht. Den wirklich Gebildeten, vom Geist<lb/> wahrer Wissenschaft Durchdrungenen, widert es an, solchem Geflunker entgegen¬<lb/> zutreten; es ist schon weit genug gekommen, wenn man überhaupt eine<lb/> Wissenschaft, und heiße sie nun wie sie wolle, auch nur zu vertheidigen<lb/> gezwungen wird. Möchte doch jene „Bildung" einmal im Ernste, wenn<lb/> sie es nämlich vermag, über die wirklichen „Bedürfnisse" unserer Zeit<lb/> nachdenken, und wenn sie vielleicht nach einer solchen Studie zu dem Bekennt¬<lb/> niß sich herablassen sollte, daß allerdings gegen den wuchernden Realismus</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0381]
nicht schuld; diese knüpfen sich stets an die Namen hervorragender Geister,
an die Ferse des Genius; er schafft das Neue, und die Massen theilen sich in
die Beute und können dabei — verthieren. Die Statistik und die National-
öconvmie, zwei moderne Wissenschaften, dazu geschaffen, den socialen Fort¬
schritt zu constatiren, vielleicht sogar, ihn zu befördern, haben sich wohl zu
hüten, aus der wachsenden Prosperität sofort auf Häufung des moralischen
Fonds zu schließen; ein Zeitalter der ausgesprochensten Capitalherrschaft,
welches Capital nicht auf gesunder Basis zu productiven Anlagen verwendet,
sondern im Dienste der ungesundesten Speculation an Chimären vergeudet
und dem tollen Wahne schneller Bereicherung hingeopfert wird, ein Zeit¬
alter des Schwindels und Gründerthums, welches selbst die Jünger der
Wissenschaft zwingt nach dem goldenen Vließ zu steuern, und welches selber
seine sämmtlichen Schiffe auf dem Wege ebendahin unter der Flagge „Zeit
ist Geld" führt — ein solches hat bereits, ohne es zu wissen, moralischen
Schiffbruch gelitten, und mögen auch seine Fahrzeuge mit allen möglichen
schönen Farben, der „allgemeinen Volksbildung", der „gegenseitigen Ver¬
sicherung" des „allgemeinen Stimmrechtes", der „Preß- und Redefreiheit" und
der „Philanthropie" angestrichen sein; von der sittlichen Vogelperspective aus
betrachtet nimmt sich dieses Getreibe gar nicht fortschrittlich, es nimmt sich
eher wie Uncultur und Barbarei aus, und der wahre Fortschritt, der nicht
blos und nicht in erster Linie nach Zahlen rechnet, muß sich ob solchem
Anblick das Haupt verhüllen. Es stimmt vollständig zu dieser Signatur,
wenn unter den Wissenschaften nur diejenigen Curs haben, welche dem armen
lieben Leibesleben zu Hülfe kommen, welche Wohlstand und Capital vermehren
und ihren eigenen Jüngern in erster Linie reichliche Prozente versprechen: die
Handelswissens es äst sucht sich mit großem Selbstbewußtsein in den Reigen
der ältern und vornehmeren Schwestern einzudrängen; die Alterthumswissen¬
schaft und ihre Anhängsel werden, weil gar zu unpraktisch und wenig lebens¬
fähig, als ..überwundener Standpunkt" betrachtet, und es gilt nicht mehr
als ein Zeichen des Unverstandes, sondern der modernen Bildung, wenn man
gegenüber den Ansprüchen der Philologen mit der tiefsinnigen Bemerkung,
daß „ihre Wissenschaft den Bedürfnissen der Neuzeit nicht genügend Rechnung
trage" zur Tagesordnung übergeht. Den wirklich Gebildeten, vom Geist
wahrer Wissenschaft Durchdrungenen, widert es an, solchem Geflunker entgegen¬
zutreten; es ist schon weit genug gekommen, wenn man überhaupt eine
Wissenschaft, und heiße sie nun wie sie wolle, auch nur zu vertheidigen
gezwungen wird. Möchte doch jene „Bildung" einmal im Ernste, wenn
sie es nämlich vermag, über die wirklichen „Bedürfnisse" unserer Zeit
nachdenken, und wenn sie vielleicht nach einer solchen Studie zu dem Bekennt¬
niß sich herablassen sollte, daß allerdings gegen den wuchernden Realismus
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