Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.fähig waren -- große Vorzüge, gewiß, gewaltige Fortschritte gegen die gleich¬ fähig waren — große Vorzüge, gewiß, gewaltige Fortschritte gegen die gleich¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0374" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/134192"/> <p xml:id="ID_1203" prev="#ID_1202" next="#ID_1204"> fähig waren — große Vorzüge, gewiß, gewaltige Fortschritte gegen die gleich¬<lb/> zeitigen Zustände rings umher. Aber bedenkt man dabei auch, um welchen<lb/> Preis jene Vorzüge allein möglich, durch welches sittliche Minus sie allein<lb/> erhältlich waren? Durch den Makel der ausgebildesten, unerbittlichsten<lb/> Sklaverei, Die Sklaven waren die Lehrer der Jugend, die Sklaven sorgten<lb/> durch ihrer Hände Werk für die Bedürfnisse des häuslichen Lebens, die Sklaven<lb/> nahmen den Herren die drückenden Sorgen der Existenz ab, und dadurch war<lb/> es diesen möglich, für die öffentlichen und auch für die höheren Interessen des<lb/> Lebens mehr Muße zu gewinnen, als es unserem Mittelschlag vergönnt ist.<lb/> Der Fortschritt war theuer erkauft! — Aber ich operire bereits eifrig mit<lb/> einem Begriff, dessen Existenz ich vor allem hätte beweisen sollen. Gibt es<lb/> denn überhaupt einen Fortschritt? Die Frage ist nicht überflüssig, denn<lb/> nicht alle haben sie bejaht. Zwar den relativen Fortschritt auf begränzten<lb/> Gebieten könnte nur die Dummheit läugnen, aber mit der Entwicklung im Ganzen<lb/> und Großen ist es etwas anderes. Der Glaube an die Weltentwicklung als Ganzes<lb/> findet sich, so viel ich weiß, im Alterthum nur bei Aristoteles ausgesprochen,<lb/> von den neueren hat Kant in einer besonderen Abhandlung sich bewogen<lb/> gefunden, die Frage zu erörtern, „ob das Menschengeschlecht in beständigem<lb/> Fortschritt zum Bessern begriffen sei", und gelangt zu dem Resultat, daß er<lb/> zwar vorhanden, aber nicht in der Moralität der Gesinnung, sondern in der<lb/> Legalität der Handlungen, d. h. also bloß in der genaueren Beobachtung,<lb/> nicht aber in der tieferen Achtung des Sittengesetzes zu finden sei. Wenn<lb/> aber die Welt nur in ihrer moralischen Vollkommenheit Gegenstand des gött¬<lb/> lichen Rathschlusses und Zweck der Schöpfung sein kann. d. h. wenn der<lb/> absolute Fortschritt nur die moralische Vervollkommung fördert, so klingt<lb/> jener Ausspruch noch nicht siegesgewiß, doch hat derselbe Königsberger Weise<lb/> die Ansicht, daß das Menschengeschlecht in seinem beständigen Tappen zwischen<lb/> Fortschritt und Rückschritt zu aller Zeit ungefähr denselben Standpunkt der<lb/> Sittlichkeit und Glückseligkeit einnehme, bekämpft, und zwar mit der Ent¬<lb/> gegnung, daß dann die Betrachtung der Geschichte empörend und alles Streben,<lb/> die nachfolgenden Geschlechter zu verbessern, umsonst wäre. Zwar könnten<lb/> die Gegner einwenden. daß hier ein petitio xiineipü vorliege, aber richtig ist<lb/> doch gewiß die fernere Behauptung des Philosophen, daß, wenn über zu¬<lb/> nehmende '.Entartung des Menschengeschlechts gesprochen wird, dieß daher<lb/> rühre, daß eben mit der wachsenden Moralität auch die sittliche Aufgabe<lb/> höher gerückt und unser Urtheil strenger wird. Lessing dagegen, der große<lb/> Kämpfer für Humanität, Lessing erklärt sich für eine gleichbleibende, nicht<lb/> fortschreitende Vollkommenheit der Welt, und sein Freund Mendelsohn hat,<lb/> wenn er gleich zugibt, daß im Laufe der Zeit der einzelne Mensch im Guten<lb/> weiter komme, merkwürdigerweise den allgemeinen geschichtlichen Fortschritt</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0374]
fähig waren — große Vorzüge, gewiß, gewaltige Fortschritte gegen die gleich¬
zeitigen Zustände rings umher. Aber bedenkt man dabei auch, um welchen
Preis jene Vorzüge allein möglich, durch welches sittliche Minus sie allein
erhältlich waren? Durch den Makel der ausgebildesten, unerbittlichsten
Sklaverei, Die Sklaven waren die Lehrer der Jugend, die Sklaven sorgten
durch ihrer Hände Werk für die Bedürfnisse des häuslichen Lebens, die Sklaven
nahmen den Herren die drückenden Sorgen der Existenz ab, und dadurch war
es diesen möglich, für die öffentlichen und auch für die höheren Interessen des
Lebens mehr Muße zu gewinnen, als es unserem Mittelschlag vergönnt ist.
Der Fortschritt war theuer erkauft! — Aber ich operire bereits eifrig mit
einem Begriff, dessen Existenz ich vor allem hätte beweisen sollen. Gibt es
denn überhaupt einen Fortschritt? Die Frage ist nicht überflüssig, denn
nicht alle haben sie bejaht. Zwar den relativen Fortschritt auf begränzten
Gebieten könnte nur die Dummheit läugnen, aber mit der Entwicklung im Ganzen
und Großen ist es etwas anderes. Der Glaube an die Weltentwicklung als Ganzes
findet sich, so viel ich weiß, im Alterthum nur bei Aristoteles ausgesprochen,
von den neueren hat Kant in einer besonderen Abhandlung sich bewogen
gefunden, die Frage zu erörtern, „ob das Menschengeschlecht in beständigem
Fortschritt zum Bessern begriffen sei", und gelangt zu dem Resultat, daß er
zwar vorhanden, aber nicht in der Moralität der Gesinnung, sondern in der
Legalität der Handlungen, d. h. also bloß in der genaueren Beobachtung,
nicht aber in der tieferen Achtung des Sittengesetzes zu finden sei. Wenn
aber die Welt nur in ihrer moralischen Vollkommenheit Gegenstand des gött¬
lichen Rathschlusses und Zweck der Schöpfung sein kann. d. h. wenn der
absolute Fortschritt nur die moralische Vervollkommung fördert, so klingt
jener Ausspruch noch nicht siegesgewiß, doch hat derselbe Königsberger Weise
die Ansicht, daß das Menschengeschlecht in seinem beständigen Tappen zwischen
Fortschritt und Rückschritt zu aller Zeit ungefähr denselben Standpunkt der
Sittlichkeit und Glückseligkeit einnehme, bekämpft, und zwar mit der Ent¬
gegnung, daß dann die Betrachtung der Geschichte empörend und alles Streben,
die nachfolgenden Geschlechter zu verbessern, umsonst wäre. Zwar könnten
die Gegner einwenden. daß hier ein petitio xiineipü vorliege, aber richtig ist
doch gewiß die fernere Behauptung des Philosophen, daß, wenn über zu¬
nehmende '.Entartung des Menschengeschlechts gesprochen wird, dieß daher
rühre, daß eben mit der wachsenden Moralität auch die sittliche Aufgabe
höher gerückt und unser Urtheil strenger wird. Lessing dagegen, der große
Kämpfer für Humanität, Lessing erklärt sich für eine gleichbleibende, nicht
fortschreitende Vollkommenheit der Welt, und sein Freund Mendelsohn hat,
wenn er gleich zugibt, daß im Laufe der Zeit der einzelne Mensch im Guten
weiter komme, merkwürdigerweise den allgemeinen geschichtlichen Fortschritt
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