Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.giebt es nicht einen, der sagen könnte, was ein gemaltes Gesicht ausdrücken Ausdruck! Gewisse Leute geben kaltblütig vor, ihn herauszulesen, die sich Wir können hier den Verfasser noch ergänzen. Unendlich verschieden ist giebt es nicht einen, der sagen könnte, was ein gemaltes Gesicht ausdrücken Ausdruck! Gewisse Leute geben kaltblütig vor, ihn herauszulesen, die sich Wir können hier den Verfasser noch ergänzen. Unendlich verschieden ist <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0230" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/134048"/> <p xml:id="ID_725" prev="#ID_724"> giebt es nicht einen, der sagen könnte, was ein gemaltes Gesicht ausdrücken<lb/> soll. Unter fünfhunderten ist nicht einer, der in einen Gerichtshof gehen und<lb/> sicher sein kann, daß er nicht einen harmlosen Geschwornen irrthümlich für<lb/> den schwarzherzigen Meuchelmörder ansieht, welcher abgeurtheilt werden soll.<lb/> Und doch reden solche Leute von „Charakter" und nehmen sich heraus, den<lb/> „Ausdruck ' auf Gemälden zu deuten. Es giebt eine alte Geschichte, daß<lb/> Mathews, der alte Schauspieler, einst die Fähigkeit des menschlichen Gesichts<lb/> lobte, die in der Brust verborgenen Leidenschaften und Gefühle auszudrücken.<lb/> Er sagte, das Gesicht könnte das, was im Herzen vorginge, deutlicher offen¬<lb/> baren als die Zunge. — Beobachten Sie einmal mein Gesicht, sagte er, was<lb/> drückt es aus? — Verzweifelung. — Bah, es drückt friedensvolle Ergebung<lb/> aus. — Was drückt aber dieses aus? — Wuth. — Dummes Zeug, es meint<lb/> Schrecken. — Dies? Albernheit. — Narr, es ist verhaltene Wildheit. Und<lb/> nun dieses? — Freude. — O zur Hölle mit Ihnen! Jeder Esel kann ja<lb/> sagen, daß es Wahnwitz bedeutet.</p><lb/> <p xml:id="ID_726"> Ausdruck! Gewisse Leute geben kaltblütig vor, ihn herauszulesen, die sich<lb/> für anmaßend halten würden, wenn sie thäten, als ob sie die Hieroglyphen<lb/> auf den Obelisken von Luxor deuten könnten, und doch sind sie zu dem Einen<lb/> ganz ebenso befugt wie zu dem Andern. Ich habe zwei sehr intelligente<lb/> Kritiker im Laufe der letzten paar Tage über Murillo's Unbefleckte Empfängniß<lb/> — jetzt im Museum von Sevilla — sprechen hören. Der eine sagte: O das<lb/> Angesicht der Jungfrau ist voll von der Verzückung einer Wonne, die voll¬<lb/> kommen ist, die auf Erden nichts mehr zu wünschen läßt. Der andere sagte:<lb/> Ah, dieses wunderbare Gesicht ist so demüthig, so hingebend, es sagt so<lb/> deutlich, wie Worte es sagen können: Ich fürchte mich, ich zittere, ich bin<lb/> unwürdig, aber dein Wille geschehe, sei eine Stütze für deine Magd."</p><lb/> <p xml:id="ID_727" next="#ID_728"> Wir können hier den Verfasser noch ergänzen. Unendlich verschieden ist<lb/> von den verschiedenen Kunstkritikern der Ausdruck der Niobe aufgefaßt worden,<lb/> deren Original bekanntlich in Florenz zu sehen ist. Während einige derselben,<lb/> wie Ramdohr, starre Furcht, entseelte Angst, den Uebergang zu ohnmächtig<lb/> schlaffer Verzweifelung wahrnehmen, andere, wie Schlegel, ihr Gesicht als „in<lb/> Thränen schwimmend voll Betrübniß und Angst" bezeichnen, spricht Feuerbach<lb/> in seinem Vaticanischen Apoll einen ganz entgegengesetzten Eindruck aus.<lb/> „Auf die ruhige kalte Maske ihres Hauptes ist die schreckliche Gewißheit<lb/> geprägt, daß die Rache des Himmels nun gesühnt ist. Für keins ihrer<lb/> Kinder ist die Mutter mehr vorhanden, wie keins ihrer Kinder mehr für<lb/> sie. Ihr Schirmen des Jüngsten ist nur bewußtlose Nöthigung der Natur,<lb/> sie selbst mit ihrem emporgerichteten Haupte die schweigende, versteinerte Niobe<lb/> des Aeschylus. die durchgeführte tragische Maske." Nach Welker führt sie<lb/> uns zu gleicher Zeit den Ausbruch der Thränen, die nie versiegen sollen, die</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0230]
giebt es nicht einen, der sagen könnte, was ein gemaltes Gesicht ausdrücken
soll. Unter fünfhunderten ist nicht einer, der in einen Gerichtshof gehen und
sicher sein kann, daß er nicht einen harmlosen Geschwornen irrthümlich für
den schwarzherzigen Meuchelmörder ansieht, welcher abgeurtheilt werden soll.
Und doch reden solche Leute von „Charakter" und nehmen sich heraus, den
„Ausdruck ' auf Gemälden zu deuten. Es giebt eine alte Geschichte, daß
Mathews, der alte Schauspieler, einst die Fähigkeit des menschlichen Gesichts
lobte, die in der Brust verborgenen Leidenschaften und Gefühle auszudrücken.
Er sagte, das Gesicht könnte das, was im Herzen vorginge, deutlicher offen¬
baren als die Zunge. — Beobachten Sie einmal mein Gesicht, sagte er, was
drückt es aus? — Verzweifelung. — Bah, es drückt friedensvolle Ergebung
aus. — Was drückt aber dieses aus? — Wuth. — Dummes Zeug, es meint
Schrecken. — Dies? Albernheit. — Narr, es ist verhaltene Wildheit. Und
nun dieses? — Freude. — O zur Hölle mit Ihnen! Jeder Esel kann ja
sagen, daß es Wahnwitz bedeutet.
Ausdruck! Gewisse Leute geben kaltblütig vor, ihn herauszulesen, die sich
für anmaßend halten würden, wenn sie thäten, als ob sie die Hieroglyphen
auf den Obelisken von Luxor deuten könnten, und doch sind sie zu dem Einen
ganz ebenso befugt wie zu dem Andern. Ich habe zwei sehr intelligente
Kritiker im Laufe der letzten paar Tage über Murillo's Unbefleckte Empfängniß
— jetzt im Museum von Sevilla — sprechen hören. Der eine sagte: O das
Angesicht der Jungfrau ist voll von der Verzückung einer Wonne, die voll¬
kommen ist, die auf Erden nichts mehr zu wünschen läßt. Der andere sagte:
Ah, dieses wunderbare Gesicht ist so demüthig, so hingebend, es sagt so
deutlich, wie Worte es sagen können: Ich fürchte mich, ich zittere, ich bin
unwürdig, aber dein Wille geschehe, sei eine Stütze für deine Magd."
Wir können hier den Verfasser noch ergänzen. Unendlich verschieden ist
von den verschiedenen Kunstkritikern der Ausdruck der Niobe aufgefaßt worden,
deren Original bekanntlich in Florenz zu sehen ist. Während einige derselben,
wie Ramdohr, starre Furcht, entseelte Angst, den Uebergang zu ohnmächtig
schlaffer Verzweifelung wahrnehmen, andere, wie Schlegel, ihr Gesicht als „in
Thränen schwimmend voll Betrübniß und Angst" bezeichnen, spricht Feuerbach
in seinem Vaticanischen Apoll einen ganz entgegengesetzten Eindruck aus.
„Auf die ruhige kalte Maske ihres Hauptes ist die schreckliche Gewißheit
geprägt, daß die Rache des Himmels nun gesühnt ist. Für keins ihrer
Kinder ist die Mutter mehr vorhanden, wie keins ihrer Kinder mehr für
sie. Ihr Schirmen des Jüngsten ist nur bewußtlose Nöthigung der Natur,
sie selbst mit ihrem emporgerichteten Haupte die schweigende, versteinerte Niobe
des Aeschylus. die durchgeführte tragische Maske." Nach Welker führt sie
uns zu gleicher Zeit den Ausbruch der Thränen, die nie versiegen sollen, die
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