Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Buchhändler beziehen kann. Wenn aber Herr Dr. Haar alles, was man
heutzutage beim Buchhändler kaufen kann, für literarische Erzeugnisse ansteht,
dann wundere ich mich nur, warum er nicht lieber gleich sämmtliche sächsische
Papier- Tinten- Stahlfeder- und Siegellackfabrikanten nebst ihren "sämmt¬
lichen Werken" in seinem Lexikon mit aufgeführt hat. Rechnet er doch
schließlich auch die Componisten unter die Schriftsteller und die Musikalien
unter die Literatur! "I^vis Na^urKas xvur 1s ?iano" oder eine "Cantate
für 4 Männerstimmen" oder ein "E-moll Quartett für 2 Violinen, Mola
und Violoncell" -- das sind lauter "im Druck erschienene Schriften". Man
wundert sich natürlich auch hier wieder in erster Linie über die grenzenlose
Naivetät der Einsender, dann aber auch über die Kritiklosigkeit des Heraus¬
gebers. Charakteristisch ist es übrigens hierbei, daß die meisten und aus¬
führlichsten derartigen Mustkalienverzeichnisse aus Dresden eingegangen sind.
In einer Stadt, wo die Wissenschaft so veelesig, xressa, bildet, wo Dilet¬
tantismus, Schöngeisterei und Kunstsimpelei sich so ausbreiten wie dort,
wird es einigermaßen begreiflich, wenn die einfachsten ltterarischen Grund¬
begriffe der Art in Nebel zerfließen, daß man schließlich in Ermangelung von
etwas Besserem unter einem "Schriftsteller" alles begreift, was sich mit Tinte
und Papier zu schaffen macht. Die Dresdner werden sich gar nicht wundern,
wenn sie hören, daß die Herren Hofcapellmeister Krebs und Rietz, Herr Con-
certmeister Hüllweck, Herr Kammermusikus Grützmacher, Herr Hofopern¬
sänger Degele und Herr Cantor und Musikdirektor Julius Otto sämmtlich
unter die Schriftsteller zählen; sie werden das ganz in der Ordnung finden.

Aber so groß der Eifer der Leute gewesen ist in dem, was sie beigesteuert
haben, so groß ist oft ihre Sorglosigkeit in dem, wie sie es bieten. Bon
dem, was man bibliographische Genauigkeit nennt, haben viele
"sächsischen Schriftsteller" nicht die leiseste Ahnung. Der eine be'gnügt sich mit
dem bloßen Titel einer Schrift, der andere fügt wenigstens noch die Jahres¬
zahl des Erscheinens hinzu, ein dritter nennt statt dessen den Verleger, ein
vierter giebt den Preis, aber keinen Verleger an, ein fünfter den Verleger,
das Jahr und die Seitenzahl, aber keinen Preis, ein sechster wieder etwas
andres -- kurz, die gräulichste Ungleichmäßigkeit. Louise Otto, allerdings
eine sehr vielbeschäftigte Autorin, hat nicht einmal Zeit gefunden, ihre Schriften
in chronologischer Folge aufzuzählen; die Jahreszahlen gehen wie toll durch
einander. Ihr zukünftiger Biograph, der ihre schriftstellerische Laufbahn genau
verfolgen will, wird sich ihre Werke zwar mit leichter Mühe in die rechte
Ordnung bringen können, aber wie leicht kann es der gefeierten Schriftstellerin
passirt sein, daß sie bei dieser Unordnung eins oder das andre vergessen hat,
und das wäre doch tief zu beklagen! Andre verfallen freilich auch hierin
wieder in das andre Extrem und befleißigen sich einer übertriebenen Genauig-


Grenzl'oder til. 1875. 17

Buchhändler beziehen kann. Wenn aber Herr Dr. Haar alles, was man
heutzutage beim Buchhändler kaufen kann, für literarische Erzeugnisse ansteht,
dann wundere ich mich nur, warum er nicht lieber gleich sämmtliche sächsische
Papier- Tinten- Stahlfeder- und Siegellackfabrikanten nebst ihren „sämmt¬
lichen Werken" in seinem Lexikon mit aufgeführt hat. Rechnet er doch
schließlich auch die Componisten unter die Schriftsteller und die Musikalien
unter die Literatur! „I^vis Na^urKas xvur 1s ?iano" oder eine „Cantate
für 4 Männerstimmen" oder ein „E-moll Quartett für 2 Violinen, Mola
und Violoncell" — das sind lauter „im Druck erschienene Schriften". Man
wundert sich natürlich auch hier wieder in erster Linie über die grenzenlose
Naivetät der Einsender, dann aber auch über die Kritiklosigkeit des Heraus¬
gebers. Charakteristisch ist es übrigens hierbei, daß die meisten und aus¬
führlichsten derartigen Mustkalienverzeichnisse aus Dresden eingegangen sind.
In einer Stadt, wo die Wissenschaft so veelesig, xressa, bildet, wo Dilet¬
tantismus, Schöngeisterei und Kunstsimpelei sich so ausbreiten wie dort,
wird es einigermaßen begreiflich, wenn die einfachsten ltterarischen Grund¬
begriffe der Art in Nebel zerfließen, daß man schließlich in Ermangelung von
etwas Besserem unter einem „Schriftsteller" alles begreift, was sich mit Tinte
und Papier zu schaffen macht. Die Dresdner werden sich gar nicht wundern,
wenn sie hören, daß die Herren Hofcapellmeister Krebs und Rietz, Herr Con-
certmeister Hüllweck, Herr Kammermusikus Grützmacher, Herr Hofopern¬
sänger Degele und Herr Cantor und Musikdirektor Julius Otto sämmtlich
unter die Schriftsteller zählen; sie werden das ganz in der Ordnung finden.

Aber so groß der Eifer der Leute gewesen ist in dem, was sie beigesteuert
haben, so groß ist oft ihre Sorglosigkeit in dem, wie sie es bieten. Bon
dem, was man bibliographische Genauigkeit nennt, haben viele
„sächsischen Schriftsteller" nicht die leiseste Ahnung. Der eine be'gnügt sich mit
dem bloßen Titel einer Schrift, der andere fügt wenigstens noch die Jahres¬
zahl des Erscheinens hinzu, ein dritter nennt statt dessen den Verleger, ein
vierter giebt den Preis, aber keinen Verleger an, ein fünfter den Verleger,
das Jahr und die Seitenzahl, aber keinen Preis, ein sechster wieder etwas
andres — kurz, die gräulichste Ungleichmäßigkeit. Louise Otto, allerdings
eine sehr vielbeschäftigte Autorin, hat nicht einmal Zeit gefunden, ihre Schriften
in chronologischer Folge aufzuzählen; die Jahreszahlen gehen wie toll durch
einander. Ihr zukünftiger Biograph, der ihre schriftstellerische Laufbahn genau
verfolgen will, wird sich ihre Werke zwar mit leichter Mühe in die rechte
Ordnung bringen können, aber wie leicht kann es der gefeierten Schriftstellerin
passirt sein, daß sie bei dieser Unordnung eins oder das andre vergessen hat,
und das wäre doch tief zu beklagen! Andre verfallen freilich auch hierin
wieder in das andre Extrem und befleißigen sich einer übertriebenen Genauig-


Grenzl'oder til. 1875. 17
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0137" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/133955"/>
          <p xml:id="ID_470" prev="#ID_469"> Buchhändler beziehen kann. Wenn aber Herr Dr. Haar alles, was man<lb/>
heutzutage beim Buchhändler kaufen kann, für literarische Erzeugnisse ansteht,<lb/>
dann wundere ich mich nur, warum er nicht lieber gleich sämmtliche sächsische<lb/>
Papier- Tinten- Stahlfeder- und Siegellackfabrikanten nebst ihren &#x201E;sämmt¬<lb/>
lichen Werken" in seinem Lexikon mit aufgeführt hat. Rechnet er doch<lb/>
schließlich auch die Componisten unter die Schriftsteller und die Musikalien<lb/>
unter die Literatur! &#x201E;I^vis Na^urKas xvur 1s ?iano" oder eine &#x201E;Cantate<lb/>
für 4 Männerstimmen" oder ein &#x201E;E-moll Quartett für 2 Violinen, Mola<lb/>
und Violoncell" &#x2014; das sind lauter &#x201E;im Druck erschienene Schriften". Man<lb/>
wundert sich natürlich auch hier wieder in erster Linie über die grenzenlose<lb/>
Naivetät der Einsender, dann aber auch über die Kritiklosigkeit des Heraus¬<lb/>
gebers. Charakteristisch ist es übrigens hierbei, daß die meisten und aus¬<lb/>
führlichsten derartigen Mustkalienverzeichnisse aus Dresden eingegangen sind.<lb/>
In einer Stadt, wo die Wissenschaft so veelesig, xressa, bildet, wo Dilet¬<lb/>
tantismus, Schöngeisterei und Kunstsimpelei sich so ausbreiten wie dort,<lb/>
wird es einigermaßen begreiflich, wenn die einfachsten ltterarischen Grund¬<lb/>
begriffe der Art in Nebel zerfließen, daß man schließlich in Ermangelung von<lb/>
etwas Besserem unter einem &#x201E;Schriftsteller" alles begreift, was sich mit Tinte<lb/>
und Papier zu schaffen macht. Die Dresdner werden sich gar nicht wundern,<lb/>
wenn sie hören, daß die Herren Hofcapellmeister Krebs und Rietz, Herr Con-<lb/>
certmeister Hüllweck, Herr Kammermusikus Grützmacher, Herr Hofopern¬<lb/>
sänger Degele und Herr Cantor und Musikdirektor Julius Otto sämmtlich<lb/>
unter die Schriftsteller zählen; sie werden das ganz in der Ordnung finden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_471" next="#ID_472"> Aber so groß der Eifer der Leute gewesen ist in dem, was sie beigesteuert<lb/>
haben, so groß ist oft ihre Sorglosigkeit in dem, wie sie es bieten. Bon<lb/>
dem, was man bibliographische Genauigkeit nennt, haben viele<lb/>
&#x201E;sächsischen Schriftsteller" nicht die leiseste Ahnung. Der eine be'gnügt sich mit<lb/>
dem bloßen Titel einer Schrift, der andere fügt wenigstens noch die Jahres¬<lb/>
zahl des Erscheinens hinzu, ein dritter nennt statt dessen den Verleger, ein<lb/>
vierter giebt den Preis, aber keinen Verleger an, ein fünfter den Verleger,<lb/>
das Jahr und die Seitenzahl, aber keinen Preis, ein sechster wieder etwas<lb/>
andres &#x2014; kurz, die gräulichste Ungleichmäßigkeit. Louise Otto, allerdings<lb/>
eine sehr vielbeschäftigte Autorin, hat nicht einmal Zeit gefunden, ihre Schriften<lb/>
in chronologischer Folge aufzuzählen; die Jahreszahlen gehen wie toll durch<lb/>
einander. Ihr zukünftiger Biograph, der ihre schriftstellerische Laufbahn genau<lb/>
verfolgen will, wird sich ihre Werke zwar mit leichter Mühe in die rechte<lb/>
Ordnung bringen können, aber wie leicht kann es der gefeierten Schriftstellerin<lb/>
passirt sein, daß sie bei dieser Unordnung eins oder das andre vergessen hat,<lb/>
und das wäre doch tief zu beklagen! Andre verfallen freilich auch hierin<lb/>
wieder in das andre Extrem und befleißigen sich einer übertriebenen Genauig-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzl'oder til. 1875. 17</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0137] Buchhändler beziehen kann. Wenn aber Herr Dr. Haar alles, was man heutzutage beim Buchhändler kaufen kann, für literarische Erzeugnisse ansteht, dann wundere ich mich nur, warum er nicht lieber gleich sämmtliche sächsische Papier- Tinten- Stahlfeder- und Siegellackfabrikanten nebst ihren „sämmt¬ lichen Werken" in seinem Lexikon mit aufgeführt hat. Rechnet er doch schließlich auch die Componisten unter die Schriftsteller und die Musikalien unter die Literatur! „I^vis Na^urKas xvur 1s ?iano" oder eine „Cantate für 4 Männerstimmen" oder ein „E-moll Quartett für 2 Violinen, Mola und Violoncell" — das sind lauter „im Druck erschienene Schriften". Man wundert sich natürlich auch hier wieder in erster Linie über die grenzenlose Naivetät der Einsender, dann aber auch über die Kritiklosigkeit des Heraus¬ gebers. Charakteristisch ist es übrigens hierbei, daß die meisten und aus¬ führlichsten derartigen Mustkalienverzeichnisse aus Dresden eingegangen sind. In einer Stadt, wo die Wissenschaft so veelesig, xressa, bildet, wo Dilet¬ tantismus, Schöngeisterei und Kunstsimpelei sich so ausbreiten wie dort, wird es einigermaßen begreiflich, wenn die einfachsten ltterarischen Grund¬ begriffe der Art in Nebel zerfließen, daß man schließlich in Ermangelung von etwas Besserem unter einem „Schriftsteller" alles begreift, was sich mit Tinte und Papier zu schaffen macht. Die Dresdner werden sich gar nicht wundern, wenn sie hören, daß die Herren Hofcapellmeister Krebs und Rietz, Herr Con- certmeister Hüllweck, Herr Kammermusikus Grützmacher, Herr Hofopern¬ sänger Degele und Herr Cantor und Musikdirektor Julius Otto sämmtlich unter die Schriftsteller zählen; sie werden das ganz in der Ordnung finden. Aber so groß der Eifer der Leute gewesen ist in dem, was sie beigesteuert haben, so groß ist oft ihre Sorglosigkeit in dem, wie sie es bieten. Bon dem, was man bibliographische Genauigkeit nennt, haben viele „sächsischen Schriftsteller" nicht die leiseste Ahnung. Der eine be'gnügt sich mit dem bloßen Titel einer Schrift, der andere fügt wenigstens noch die Jahres¬ zahl des Erscheinens hinzu, ein dritter nennt statt dessen den Verleger, ein vierter giebt den Preis, aber keinen Verleger an, ein fünfter den Verleger, das Jahr und die Seitenzahl, aber keinen Preis, ein sechster wieder etwas andres — kurz, die gräulichste Ungleichmäßigkeit. Louise Otto, allerdings eine sehr vielbeschäftigte Autorin, hat nicht einmal Zeit gefunden, ihre Schriften in chronologischer Folge aufzuzählen; die Jahreszahlen gehen wie toll durch einander. Ihr zukünftiger Biograph, der ihre schriftstellerische Laufbahn genau verfolgen will, wird sich ihre Werke zwar mit leichter Mühe in die rechte Ordnung bringen können, aber wie leicht kann es der gefeierten Schriftstellerin passirt sein, daß sie bei dieser Unordnung eins oder das andre vergessen hat, und das wäre doch tief zu beklagen! Andre verfallen freilich auch hierin wieder in das andre Extrem und befleißigen sich einer übertriebenen Genauig- Grenzl'oder til. 1875. 17

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/137
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/137>, abgerufen am 28.09.2024.