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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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complet*), und erfreut sich also jetzt seines ganzen, vollen und ungetheilten
Daseins; es existirt, es will berücksichtigt, es will studirt sein. Studiren wir
es denn.

Ein "sächsisches Schriftstellerlexikon" -- 187S! Sollte man das wohl
für möglich halten? Von allen Erscheinungsformen des Particularismus ist
dies doch ohne Zweifel die denkbar bornirteste. Wer ist denn überhaupt ein
sächsischer Schriftsteller ? Ist es der, der in Sachsen geboren ist? Oder der,
der in Sachsen lebt? Gilt der dafür, der fünfzig Jahre in Preußen gelebt
hat und vielleicht seit zwei Jahren sich in Sachsen aufhält? Darf man den
dazu rechnen, der Jahrzehnte lang auf sächsischem Boden gelebt hat und
seit Kurzem vielleicht in Preußen lebt? Nun, der Herausgeber definirt uns
den Begriff des Näheren auf dem Titelblatte-, ein sächsischer Schriftsteller ist
feder "im Königreich Sachsen gegenwärtig lebende Schriftsteller". Die Rich¬
tigkeit dieser Definition zugegeben, was will aber überhaupt das ganze Buch?
Ist es nicht bereits antiquirr in demselben Augenblicke, wo es erscheint, ja
sogar noch vor Beginn des Drucks? Wer verlangt darnach? Und gerade
"jetzt darnach? Wer kann es brauchen? Wozu kann man es brauchen? Mir
ist es in der That unfaßbar, wie jemand heutzutage noch auf eine solche zopfige
Idee verfallen kann. Die "Schriststellerlexika" waren eine Ausgeburt des
18. Jahrhunderts. Namentlich in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts
schössen diese literarischen Adreßbücher, denn weiter sind sie ja nichts, wie
Pilze aus dem Boden. Nicht nur jedes Land und jedes Ländchen, sondern
selbst jede Stadt und jedes Städtchen in Deutschland mußte damals sein
Gelehrtenlexikon haben. Sie sind ja allbekannt, diese schönen Werke, von
I. G. Meusel's "Gelehrten Teutschland oder Lexikon der jetzt lebenden teutschen
Schriftsteller", F. A. Weiz' "Gelehrten Sachsen oder Berzeichniß derer in den
Churfürst!. Sachs, und incorporirten Ländern jetztlebenden Schriftsteller"
an, bis herab zur "LeKiläg, litlzratg.^ und dem "itzt florirenden gelehrten
Quirlequitsch oder Tripstrille". Aber was sollen wir mit einem solchen
Machwerke im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts?

Doch ereifern wir uns nicht länger über die Idee. Sehen wir uns
lieber die Ausführung derselben etwas näher an. Beginnen wir ganz
äußerlich mit der Physiognomie des Buches und stellen wir dann zu¬
nächst -- was der Herausgeber sich leider erspart hat -- eine kleine Statistik
daraus aus.

Den Titel habe ich schon mitgetheilt. Auf das Titelblatt folgt eine
Widmung an S. Majestät den König von Sachsen -- ein Muster typo-



*) sächsisches Schriftsteller - Lexicon. Alphabetisch geordnete Zusammenstellung der im
Königreich Sachsen gegenwärtig lebenden Gelehrten, Schriftsteller und Künstler ze. Heraus¬
gegeben von Dr. ein;ol. Wilhelm Haar. Leipzig, Robert Schüfer 1875.

complet*), und erfreut sich also jetzt seines ganzen, vollen und ungetheilten
Daseins; es existirt, es will berücksichtigt, es will studirt sein. Studiren wir
es denn.

Ein „sächsisches Schriftstellerlexikon" — 187S! Sollte man das wohl
für möglich halten? Von allen Erscheinungsformen des Particularismus ist
dies doch ohne Zweifel die denkbar bornirteste. Wer ist denn überhaupt ein
sächsischer Schriftsteller ? Ist es der, der in Sachsen geboren ist? Oder der,
der in Sachsen lebt? Gilt der dafür, der fünfzig Jahre in Preußen gelebt
hat und vielleicht seit zwei Jahren sich in Sachsen aufhält? Darf man den
dazu rechnen, der Jahrzehnte lang auf sächsischem Boden gelebt hat und
seit Kurzem vielleicht in Preußen lebt? Nun, der Herausgeber definirt uns
den Begriff des Näheren auf dem Titelblatte-, ein sächsischer Schriftsteller ist
feder „im Königreich Sachsen gegenwärtig lebende Schriftsteller". Die Rich¬
tigkeit dieser Definition zugegeben, was will aber überhaupt das ganze Buch?
Ist es nicht bereits antiquirr in demselben Augenblicke, wo es erscheint, ja
sogar noch vor Beginn des Drucks? Wer verlangt darnach? Und gerade
«jetzt darnach? Wer kann es brauchen? Wozu kann man es brauchen? Mir
ist es in der That unfaßbar, wie jemand heutzutage noch auf eine solche zopfige
Idee verfallen kann. Die „Schriststellerlexika" waren eine Ausgeburt des
18. Jahrhunderts. Namentlich in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts
schössen diese literarischen Adreßbücher, denn weiter sind sie ja nichts, wie
Pilze aus dem Boden. Nicht nur jedes Land und jedes Ländchen, sondern
selbst jede Stadt und jedes Städtchen in Deutschland mußte damals sein
Gelehrtenlexikon haben. Sie sind ja allbekannt, diese schönen Werke, von
I. G. Meusel's „Gelehrten Teutschland oder Lexikon der jetzt lebenden teutschen
Schriftsteller", F. A. Weiz' „Gelehrten Sachsen oder Berzeichniß derer in den
Churfürst!. Sachs, und incorporirten Ländern jetztlebenden Schriftsteller"
an, bis herab zur „LeKiläg, litlzratg.^ und dem „itzt florirenden gelehrten
Quirlequitsch oder Tripstrille". Aber was sollen wir mit einem solchen
Machwerke im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts?

Doch ereifern wir uns nicht länger über die Idee. Sehen wir uns
lieber die Ausführung derselben etwas näher an. Beginnen wir ganz
äußerlich mit der Physiognomie des Buches und stellen wir dann zu¬
nächst — was der Herausgeber sich leider erspart hat — eine kleine Statistik
daraus aus.

Den Titel habe ich schon mitgetheilt. Auf das Titelblatt folgt eine
Widmung an S. Majestät den König von Sachsen — ein Muster typo-



*) sächsisches Schriftsteller - Lexicon. Alphabetisch geordnete Zusammenstellung der im
Königreich Sachsen gegenwärtig lebenden Gelehrten, Schriftsteller und Künstler ze. Heraus¬
gegeben von Dr. ein;ol. Wilhelm Haar. Leipzig, Robert Schüfer 1875.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/131>, abgerufen am 28.09.2024.