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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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mosthenes' Rede gegen Aischines nicht wenig davon haben; aber während
Aischines, der Emporkömmling und Spätgelehrte, mit seiner Bildung sich
zeigen will, Demosthenes aber durch ihn veranlaßt und in Erwiderung auf
jene Stellen etwas thut, was sonst ihm fremd ist, so will Lykurgos mit
diesen Dichterworten dem Volke Patriotismus und Tugend predigen, wie er
zu gleichem Zwecke auch alte Sagen, wie die von Kodros' Opfertod, aus¬
führlich erzählt. Dabei ist Lykurgos nicht mehr als die andern attischen
Redner, den Jsokrates allenfalls ausgenommen, als gelehrt zu bezeichnen: er
macht vielmehr, wo er auf die Perserkriege und andre historische Ereignisse
kommt, höchst bedenkliche Schnitzer, schlimmere noch als die, welche sich dem
Demosthenes nachweisen lassen. In dieser Beziehung ist zwischen dem da¬
maligen Athen und dem ciceronischen Rom ein merkwürdiger Gegensatz: nicht
den zehnten Theil der Kenntnisse, die Cicero von der römischen Geschichte
besaß, hatte Demosthenes von der attischen, und was er bei Thukydides und
in andern Büchern gelesen hatte, ist er stets sorgfältig beflissen, statt auf diese
Quelle, auf die des Hörensagens zurückzuführen, als auf eine, die seinem Pu¬
blikum im gleichen Maße zugänglich war wie ihm. Soviel vermochte der de¬
mokratische Geist Athens, und so sehr war der Redner genöthigt, sich dem
Volke als einer aus dem Volke zu zeigen, um Vertrauen und Glauben zu
gewinnen. Wenn nun von Lykurgos außerdem glaubwürdig berichtet wird,
daß er ein Zuhörer Platon's gewesen, so ist das bei ihm wie bei Hypereides,
von dem das Gleiche gilt, nicht dahin zu verstehen, daß sie sich mit der Jdeen-
lehre und den andern tieferen Spekulationen abgegeben. Die populären Dog¬
men des Platonismus, wie das von Tugend und Glückseligkeit, oder das von
der Unsterblichkeit der Seele, welches Hypereides einmal berührt, wirkten über
den engen Kreis der eigentlichen Akademiker weit hinaus und gaben Vielen
einen sittlichen Halt. Lykurgos insbesondre ist von allen Rednern der ge¬
wissenhafteste und wahrhaftigste, und er hält seine Anklagerede von allen
außerhalb der Sache liegenden Beschuldigungen und Schmähungen rein, sehr
entgegen dem allgemeinen Brauche; darum hatte auch das Volk ein solches
Vertrauen zu seiner Gerechtigkeit, daß es, wie in dem angeführten demosthe-
nischen Briefe gesagt wird, oftmals, was Rechtens sei, nach dem bloßen Worte
des Lykurgos entschied. Aber dieses sein Rechtsgefühl verlangte nicht bloß
für die Unschuldigen Schutz und Sicherheit, sondern auch für die Schuldigen
unerbittliche Bestrafung, und er scheute sich nicht, um diese zu erwirken, die
mit dem Geschäft des Anklägers verbundene Gehässigkeit auf sich zu nehmen.
Demosthenes, nach seiner milderen und weicheren Natur, mochte sich hiermit
nie befassen; Andre betrieben es nur allzusehr, sei es um persönliche Nachsucht
zu befriedigen, was den Meisten für ganz ehrenhaft galt, sei es um des
Gewinnes willen, den sie theils von dem schon Angeklagten für die Zurück-


mosthenes' Rede gegen Aischines nicht wenig davon haben; aber während
Aischines, der Emporkömmling und Spätgelehrte, mit seiner Bildung sich
zeigen will, Demosthenes aber durch ihn veranlaßt und in Erwiderung auf
jene Stellen etwas thut, was sonst ihm fremd ist, so will Lykurgos mit
diesen Dichterworten dem Volke Patriotismus und Tugend predigen, wie er
zu gleichem Zwecke auch alte Sagen, wie die von Kodros' Opfertod, aus¬
führlich erzählt. Dabei ist Lykurgos nicht mehr als die andern attischen
Redner, den Jsokrates allenfalls ausgenommen, als gelehrt zu bezeichnen: er
macht vielmehr, wo er auf die Perserkriege und andre historische Ereignisse
kommt, höchst bedenkliche Schnitzer, schlimmere noch als die, welche sich dem
Demosthenes nachweisen lassen. In dieser Beziehung ist zwischen dem da¬
maligen Athen und dem ciceronischen Rom ein merkwürdiger Gegensatz: nicht
den zehnten Theil der Kenntnisse, die Cicero von der römischen Geschichte
besaß, hatte Demosthenes von der attischen, und was er bei Thukydides und
in andern Büchern gelesen hatte, ist er stets sorgfältig beflissen, statt auf diese
Quelle, auf die des Hörensagens zurückzuführen, als auf eine, die seinem Pu¬
blikum im gleichen Maße zugänglich war wie ihm. Soviel vermochte der de¬
mokratische Geist Athens, und so sehr war der Redner genöthigt, sich dem
Volke als einer aus dem Volke zu zeigen, um Vertrauen und Glauben zu
gewinnen. Wenn nun von Lykurgos außerdem glaubwürdig berichtet wird,
daß er ein Zuhörer Platon's gewesen, so ist das bei ihm wie bei Hypereides,
von dem das Gleiche gilt, nicht dahin zu verstehen, daß sie sich mit der Jdeen-
lehre und den andern tieferen Spekulationen abgegeben. Die populären Dog¬
men des Platonismus, wie das von Tugend und Glückseligkeit, oder das von
der Unsterblichkeit der Seele, welches Hypereides einmal berührt, wirkten über
den engen Kreis der eigentlichen Akademiker weit hinaus und gaben Vielen
einen sittlichen Halt. Lykurgos insbesondre ist von allen Rednern der ge¬
wissenhafteste und wahrhaftigste, und er hält seine Anklagerede von allen
außerhalb der Sache liegenden Beschuldigungen und Schmähungen rein, sehr
entgegen dem allgemeinen Brauche; darum hatte auch das Volk ein solches
Vertrauen zu seiner Gerechtigkeit, daß es, wie in dem angeführten demosthe-
nischen Briefe gesagt wird, oftmals, was Rechtens sei, nach dem bloßen Worte
des Lykurgos entschied. Aber dieses sein Rechtsgefühl verlangte nicht bloß
für die Unschuldigen Schutz und Sicherheit, sondern auch für die Schuldigen
unerbittliche Bestrafung, und er scheute sich nicht, um diese zu erwirken, die
mit dem Geschäft des Anklägers verbundene Gehässigkeit auf sich zu nehmen.
Demosthenes, nach seiner milderen und weicheren Natur, mochte sich hiermit
nie befassen; Andre betrieben es nur allzusehr, sei es um persönliche Nachsucht
zu befriedigen, was den Meisten für ganz ehrenhaft galt, sei es um des
Gewinnes willen, den sie theils von dem schon Angeklagten für die Zurück-


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[0013] mosthenes' Rede gegen Aischines nicht wenig davon haben; aber während Aischines, der Emporkömmling und Spätgelehrte, mit seiner Bildung sich zeigen will, Demosthenes aber durch ihn veranlaßt und in Erwiderung auf jene Stellen etwas thut, was sonst ihm fremd ist, so will Lykurgos mit diesen Dichterworten dem Volke Patriotismus und Tugend predigen, wie er zu gleichem Zwecke auch alte Sagen, wie die von Kodros' Opfertod, aus¬ führlich erzählt. Dabei ist Lykurgos nicht mehr als die andern attischen Redner, den Jsokrates allenfalls ausgenommen, als gelehrt zu bezeichnen: er macht vielmehr, wo er auf die Perserkriege und andre historische Ereignisse kommt, höchst bedenkliche Schnitzer, schlimmere noch als die, welche sich dem Demosthenes nachweisen lassen. In dieser Beziehung ist zwischen dem da¬ maligen Athen und dem ciceronischen Rom ein merkwürdiger Gegensatz: nicht den zehnten Theil der Kenntnisse, die Cicero von der römischen Geschichte besaß, hatte Demosthenes von der attischen, und was er bei Thukydides und in andern Büchern gelesen hatte, ist er stets sorgfältig beflissen, statt auf diese Quelle, auf die des Hörensagens zurückzuführen, als auf eine, die seinem Pu¬ blikum im gleichen Maße zugänglich war wie ihm. Soviel vermochte der de¬ mokratische Geist Athens, und so sehr war der Redner genöthigt, sich dem Volke als einer aus dem Volke zu zeigen, um Vertrauen und Glauben zu gewinnen. Wenn nun von Lykurgos außerdem glaubwürdig berichtet wird, daß er ein Zuhörer Platon's gewesen, so ist das bei ihm wie bei Hypereides, von dem das Gleiche gilt, nicht dahin zu verstehen, daß sie sich mit der Jdeen- lehre und den andern tieferen Spekulationen abgegeben. Die populären Dog¬ men des Platonismus, wie das von Tugend und Glückseligkeit, oder das von der Unsterblichkeit der Seele, welches Hypereides einmal berührt, wirkten über den engen Kreis der eigentlichen Akademiker weit hinaus und gaben Vielen einen sittlichen Halt. Lykurgos insbesondre ist von allen Rednern der ge¬ wissenhafteste und wahrhaftigste, und er hält seine Anklagerede von allen außerhalb der Sache liegenden Beschuldigungen und Schmähungen rein, sehr entgegen dem allgemeinen Brauche; darum hatte auch das Volk ein solches Vertrauen zu seiner Gerechtigkeit, daß es, wie in dem angeführten demosthe- nischen Briefe gesagt wird, oftmals, was Rechtens sei, nach dem bloßen Worte des Lykurgos entschied. Aber dieses sein Rechtsgefühl verlangte nicht bloß für die Unschuldigen Schutz und Sicherheit, sondern auch für die Schuldigen unerbittliche Bestrafung, und er scheute sich nicht, um diese zu erwirken, die mit dem Geschäft des Anklägers verbundene Gehässigkeit auf sich zu nehmen. Demosthenes, nach seiner milderen und weicheren Natur, mochte sich hiermit nie befassen; Andre betrieben es nur allzusehr, sei es um persönliche Nachsucht zu befriedigen, was den Meisten für ganz ehrenhaft galt, sei es um des Gewinnes willen, den sie theils von dem schon Angeklagten für die Zurück-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/13>, abgerufen am 29.09.2024.