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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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meister die Rolle des Pilatus spielt, sein erster Assistent Caiphas, sein zweiter
Herodes vorstellt. Der Novize wird zuletzt zur Kreuzigung verurtheilt, aber
begnadigt, indem er sich zu einem zweiten Eide versteht, in welchen er einwilligt,
im Falle einer Verrätherei von seiner Seite in Stücke gehauen und verbrannt
zu werden. Das wahre Geheimniß des Bundes erfährt er aber auch jetzt
noch nicht.

Erst der Grad des "großen Auserwählten" giebt dem Carbonaro Einsicht
in den Zweck der Gesellschaft, in die er eingetreten ist. Dieser Grad wird
nur mit großer Vorsicht, ganz im Geheimen und nur solchen Mitgliedern der
zwei vorhergehenden ertheilt, die sich durch Klugheit, Eifer, Muth und Er¬
gebenheit gegen die Bundesobern hervor gethan haben. Außerdem aber
müssen die Candttaten, die Einlaß in die Grotte der Aufnahmen finden wol¬
len, nach den Bestimmungen des Codex der Carbonari "treue Freunde der
Volksfreiheit und beredt sein, gegen tyrannische Regierungen zu kämpfen, welche
die verabscheuten Beherrscher des alten schönen Ausoniens sind." Die Zu¬
lassung wird durch Ballotirung entschieden. Drei schwarze Kugeln genügen,
um den Zutritt Wünschenden zurückzuweisen. Derselbe muß dreiunddreißig
Jahre und drei Monate alt sein wie Christus, als er starb. Sonst spielen
hier Beziehungen auf religiöse Vorstellungen nicht mit. Das Drama der
Ausnahme ist vielmehr rein politischer Natur. Die Feierlichkeit findet an
einem abgelegnen und geheimgehaltnen Orte statt, den nur die kennen, welche
bereits in den Grad der "großen Auserwählten" aufgenommen sind. Die
Loge ist dreieckig und am östlichen Ende abgestumpft. Der Großmeister der
Auserwählten sitzt auf einem Throne. Zwei Wachen, die man nach der Ge¬
stalt ihrer Schwerter "Flammen" nennt, behüten den Eingang. Die beiden
Gehülfen des Stuhlmeisters heißen der eine der Mond, der andere die Sonne.
Drei Lampen, die ihrer Form nach Sonne, Mond und Sterne vorstellen,
hängen, je eine, in den drei Ecken der Grotte. Der Katechismus enthüllt
hier den Candidaten, daß der Zweck der Genossenschaft ein politischer ist, daß
dieselbe den Sturz aller Tyrannen erstrebt, und daß die Zeit der Befreiung
aller Völker nahe ist. Jedem hervorragenden Mitgliede des Bundes werden
seine Stellung und seine Pflichten bei dem zukünftigen Zusammenstoß mit
der öffentlichen Gewalt zugetheilt, und die Ceremonie schließt damit, daß alle
Anwesenden niederknien und sich ihre Degen auf die Brust setzen, während
der große Auserwählte die folgende Eidesformel ausspricht: "Ich, ein freier
Bürger Ausonias, schwöre vor dem Großmeister des Universums und dem
großen auserwählten guten Vetter lJesus), mein ganzes Leben dem Siege der
Grundsätze der Freiheit, der Gleichen und des Fortschritts zu weihen, welche
die Seele aller geheimen und öffentlichen Acte des Carbonarismus sind. Ich
verspreche, daß ich, wenn es unmöglich sein sollte, die Herrschaft der Freiheit


meister die Rolle des Pilatus spielt, sein erster Assistent Caiphas, sein zweiter
Herodes vorstellt. Der Novize wird zuletzt zur Kreuzigung verurtheilt, aber
begnadigt, indem er sich zu einem zweiten Eide versteht, in welchen er einwilligt,
im Falle einer Verrätherei von seiner Seite in Stücke gehauen und verbrannt
zu werden. Das wahre Geheimniß des Bundes erfährt er aber auch jetzt
noch nicht.

Erst der Grad des „großen Auserwählten" giebt dem Carbonaro Einsicht
in den Zweck der Gesellschaft, in die er eingetreten ist. Dieser Grad wird
nur mit großer Vorsicht, ganz im Geheimen und nur solchen Mitgliedern der
zwei vorhergehenden ertheilt, die sich durch Klugheit, Eifer, Muth und Er¬
gebenheit gegen die Bundesobern hervor gethan haben. Außerdem aber
müssen die Candttaten, die Einlaß in die Grotte der Aufnahmen finden wol¬
len, nach den Bestimmungen des Codex der Carbonari „treue Freunde der
Volksfreiheit und beredt sein, gegen tyrannische Regierungen zu kämpfen, welche
die verabscheuten Beherrscher des alten schönen Ausoniens sind." Die Zu¬
lassung wird durch Ballotirung entschieden. Drei schwarze Kugeln genügen,
um den Zutritt Wünschenden zurückzuweisen. Derselbe muß dreiunddreißig
Jahre und drei Monate alt sein wie Christus, als er starb. Sonst spielen
hier Beziehungen auf religiöse Vorstellungen nicht mit. Das Drama der
Ausnahme ist vielmehr rein politischer Natur. Die Feierlichkeit findet an
einem abgelegnen und geheimgehaltnen Orte statt, den nur die kennen, welche
bereits in den Grad der „großen Auserwählten" aufgenommen sind. Die
Loge ist dreieckig und am östlichen Ende abgestumpft. Der Großmeister der
Auserwählten sitzt auf einem Throne. Zwei Wachen, die man nach der Ge¬
stalt ihrer Schwerter „Flammen" nennt, behüten den Eingang. Die beiden
Gehülfen des Stuhlmeisters heißen der eine der Mond, der andere die Sonne.
Drei Lampen, die ihrer Form nach Sonne, Mond und Sterne vorstellen,
hängen, je eine, in den drei Ecken der Grotte. Der Katechismus enthüllt
hier den Candidaten, daß der Zweck der Genossenschaft ein politischer ist, daß
dieselbe den Sturz aller Tyrannen erstrebt, und daß die Zeit der Befreiung
aller Völker nahe ist. Jedem hervorragenden Mitgliede des Bundes werden
seine Stellung und seine Pflichten bei dem zukünftigen Zusammenstoß mit
der öffentlichen Gewalt zugetheilt, und die Ceremonie schließt damit, daß alle
Anwesenden niederknien und sich ihre Degen auf die Brust setzen, während
der große Auserwählte die folgende Eidesformel ausspricht: „Ich, ein freier
Bürger Ausonias, schwöre vor dem Großmeister des Universums und dem
großen auserwählten guten Vetter lJesus), mein ganzes Leben dem Siege der
Grundsätze der Freiheit, der Gleichen und des Fortschritts zu weihen, welche
die Seele aller geheimen und öffentlichen Acte des Carbonarismus sind. Ich
verspreche, daß ich, wenn es unmöglich sein sollte, die Herrschaft der Freiheit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/468>, abgerufen am 22.07.2024.