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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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und Worten und hatten eine Organisation, nach der sie sich in verschiedene
Grade sowie in Bezirke und Unterbezirke theilten, die nach ihrem Gewerbe
"Kohlenhandlungen" und "Köhlerhütten" hießen. Die Mitglieder nannten
sich "gute Vettern". Der Eremit Theobald schloß sich ihnen an und wurde
ihr Vorsteher. Nun begab sich's, daß eines Tages Franz der Erste, der König
von Frankreich, in seinen an Schottland grenzenden Wäldern (!) jagend, sich
von seinem Gefolge verirrte und, nachdem er lange vergebens den Rückweg
gesucht, auf eine von den Hütten der Köhler stieß. Er wurde von Theobald
gastfrei aufgenommen l! dieser starb 1066. Franz wurde 1494 geboren) und
schließlich in die Geheimnisse des Bundes eingeweiht. Nach Frankreich zurück¬
gekehrt, erklärte er sich zum Protector desselben. Der Ursprung dieser Sage
ist vielleicht in dem Schutze zu suchen, den Franz nach dem Vorgange Ludwig's
des Zwölften den nach der Dauphins geflüchteten Waldensern gewährte. Als
geschichtlich scheint sonst von beiden Fabeln nur festzustehen, daß der Bund
der Fendeurs des Jura sich allmälig nach Italien ausgebreitet, und dort
vielfach umgestaltet hat, bis er im zweiten Decennium, mit theilweiser Bei¬
behaltung der alten Formen, einen völlig neuen Inhalt bekam und zum poli¬
tischen Geheimbunde wurde.

Dieß geschah in der Zeit, wo die Franzosen über Neapel herrschten. Unter
Murat's Regiment flüchteten neapolitanische Patrioten, theils Republikaner theils
Anhänger des Königs Ferdinand, in die Waldschluchten der Abruzzen, und hier
mögen sie mit dem alten Köhlerverein zusammengetroffen sein und denselben um¬
gestaltet haben, indem man gewisse Riten von der Freimaurerei entlehnte.
Eine Zeit lang wurden die Carbonari von der Königin Caroline von Sici-
lien und ihrer Polizei begünstigt und benutzt. Später überwog das republi¬
kanische Element, das bald ganz zur Herrschaft im Bunde gelangte. Das
Haupt desselben war in den zwanziger Jahren Capobianco, ein ausgezeich¬
neter Redner. Ihren Zweck drückten die Carbonari durch den Ruf aus:
"Rache des durch den Wolf erdrückten Lammes!" die Grundlage ihrer Sym¬
bole war "Reinigung des Waldes von Wölfen", d. h. Kampf gegen die
Tyrannen, worunter nach der Wiedereinsetzung der von den Franzosen
vertriebenen Dynastien Italiens diese letzteren verstanden wurden. Diese
republikanischen Grundsätze wurden indeß nur in den höheren Graden mit¬
getheilt.

Eine Centralleitung des Bundes, der bald nach seiner Umbildung in
eine politische Gesellschaft 30,000 und später mehr als 700,000 Mitglieder
gezählt haben soll, unter denen sich namentlich viele Militärs und Geistliche
befanden, scheint nicht zu Stande gekommen zu sein. Die Vereine der ein¬
zelnen Orte aber standen nach den Provinzen mit einander in Verbindung.
Der Versammlungsort hieß "baraeea", Hütte, das Innere desselben "venäiw",


und Worten und hatten eine Organisation, nach der sie sich in verschiedene
Grade sowie in Bezirke und Unterbezirke theilten, die nach ihrem Gewerbe
„Kohlenhandlungen" und „Köhlerhütten" hießen. Die Mitglieder nannten
sich „gute Vettern". Der Eremit Theobald schloß sich ihnen an und wurde
ihr Vorsteher. Nun begab sich's, daß eines Tages Franz der Erste, der König
von Frankreich, in seinen an Schottland grenzenden Wäldern (!) jagend, sich
von seinem Gefolge verirrte und, nachdem er lange vergebens den Rückweg
gesucht, auf eine von den Hütten der Köhler stieß. Er wurde von Theobald
gastfrei aufgenommen l! dieser starb 1066. Franz wurde 1494 geboren) und
schließlich in die Geheimnisse des Bundes eingeweiht. Nach Frankreich zurück¬
gekehrt, erklärte er sich zum Protector desselben. Der Ursprung dieser Sage
ist vielleicht in dem Schutze zu suchen, den Franz nach dem Vorgange Ludwig's
des Zwölften den nach der Dauphins geflüchteten Waldensern gewährte. Als
geschichtlich scheint sonst von beiden Fabeln nur festzustehen, daß der Bund
der Fendeurs des Jura sich allmälig nach Italien ausgebreitet, und dort
vielfach umgestaltet hat, bis er im zweiten Decennium, mit theilweiser Bei¬
behaltung der alten Formen, einen völlig neuen Inhalt bekam und zum poli¬
tischen Geheimbunde wurde.

Dieß geschah in der Zeit, wo die Franzosen über Neapel herrschten. Unter
Murat's Regiment flüchteten neapolitanische Patrioten, theils Republikaner theils
Anhänger des Königs Ferdinand, in die Waldschluchten der Abruzzen, und hier
mögen sie mit dem alten Köhlerverein zusammengetroffen sein und denselben um¬
gestaltet haben, indem man gewisse Riten von der Freimaurerei entlehnte.
Eine Zeit lang wurden die Carbonari von der Königin Caroline von Sici-
lien und ihrer Polizei begünstigt und benutzt. Später überwog das republi¬
kanische Element, das bald ganz zur Herrschaft im Bunde gelangte. Das
Haupt desselben war in den zwanziger Jahren Capobianco, ein ausgezeich¬
neter Redner. Ihren Zweck drückten die Carbonari durch den Ruf aus:
„Rache des durch den Wolf erdrückten Lammes!" die Grundlage ihrer Sym¬
bole war „Reinigung des Waldes von Wölfen", d. h. Kampf gegen die
Tyrannen, worunter nach der Wiedereinsetzung der von den Franzosen
vertriebenen Dynastien Italiens diese letzteren verstanden wurden. Diese
republikanischen Grundsätze wurden indeß nur in den höheren Graden mit¬
getheilt.

Eine Centralleitung des Bundes, der bald nach seiner Umbildung in
eine politische Gesellschaft 30,000 und später mehr als 700,000 Mitglieder
gezählt haben soll, unter denen sich namentlich viele Militärs und Geistliche
befanden, scheint nicht zu Stande gekommen zu sein. Die Vereine der ein¬
zelnen Orte aber standen nach den Provinzen mit einander in Verbindung.
Der Versammlungsort hieß «baraeea", Hütte, das Innere desselben „venäiw«,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/464>, abgerufen am 25.08.2024.