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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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Excesse, an welche der Reichskanzler in seiner Rede vorzugsweise gedacht haben
mag. die Pöbelangriffe auf die Polizeimannschaften bei den jüngsten Bränden
und Festen der Reichshauptstadt, gar nicht mehr blos unter den Widerstands¬
paragraphen fallen, sondern als Aufruhr und sogar -- soweit dabei Eigen¬
thum zerstört oder geplündert wurde. wie bei der Enthüllung des Stein-
Denkmals in Berlin -- als Landfriedensbruch d. h. mit Zuchthaus bis zu
zehn Jahren an jedem Rädelsführer oder Gewaltthätigen zu bestrafen sind.
Ueberhaupt werden die schweren Fälle von Widerstand, bei denen die Unbot-
mäßigkeit Mehrerer zu bewältigen ist. sich fast stets als Aufruhr. Befreiung
von Gefangenen u. s. w. qualifiziren lassen. Es fehlt also keineswegs an
demjenigen Schutz, den das Gesetz den Dienern der Ordnung angedeihen
lassen muß. Und so oft solche Fälle vorlagen -- wir erinnern an die Ber¬
liner Aufruhrscenen im Friedrichshain vor zwei Jahren, an den Frankfurter
Landfriedensbruch. an die Leipziger Pleißengassenexcesse u. s. w. -- hat die
gesammte deutsche Justiz mit untadelicher Strenge gestraft. Andrerseits ist
aber auch darauf zu verweisen. daß nicht blos der im Vergleich zu England
durchschnittlich geringere Respect vor den Executivbeamten ein deutscher
Fehler ist. sondern auch die größere Empfindlichkeit und der geringere Takt
dieser Beamten, vor Allem aber ihre Virtuosität in der Handhabung ihres
Pflichteides. Und wenn daher die Motive anführen, daß "Seitens der Ver¬
waltungsbehörden mannigfache Klagen darüber geführt werden". daß die von
den Gerichten verhängten Strafen zu milde seien, so fehlt jeder Nachweis über
die wirkliche Berechtigung und den Werth dieser Klagen, zumal Jedem, der
in solchen Sachen als Richter. Ankläger oder Vertheidiger gearbeitet hat. be¬
kannt ist. daß die Verwaltungsbehörden den jeweiligen Thatbestand un¬
erschütterlich und in alle Ewigkeit sich so vorstellen, wie die pflichteidliche
Aussage ihres Beamten ihn darstellt, der Richter aber den Werth aller
Beweismittel nach seiner freien Ueberzeugung abwägt und danach urtheilt.
Es liegt nicht die geringste Veranlassung vor. im Jahre 1875 über die
Fähigkeit und Gerechtigkeit des deutschen Nichterstandes geringer zu denken,
als 1870. Darum sollte jede von der Novelle versuchte Aenderung vom
Reichstag versagt werden, welche die Freiheit der richterlichen Thätigkeit und
Ueberzeugung im Vergleich zum bisherigen Strafrecht verkümmert. Dahin
gehören die Bestimmungen der Novelle, welche höhere Strafminima vorschlagen.
Dahin gehört auch der unglückselige Vorschlag, neue Arten und Grade des
Versuchs einzuführen. Schon die Motive zum Strafgesetzbuch von 1870 ver¬
warfen eine solche als unwissenschaftlich und thöricht. Nun sollen gar die
Versuchsstadien des seligen. Revidirten Kgl. Sächsischen Strafgesetzbuchs aus
ihrer verdienten Grabesruhe wieder hervorgeholt und in Reichsdienst einge¬
stellt werden. jene berufene Scala von Vorbereitungs- und Versuchshand-


Excesse, an welche der Reichskanzler in seiner Rede vorzugsweise gedacht haben
mag. die Pöbelangriffe auf die Polizeimannschaften bei den jüngsten Bränden
und Festen der Reichshauptstadt, gar nicht mehr blos unter den Widerstands¬
paragraphen fallen, sondern als Aufruhr und sogar — soweit dabei Eigen¬
thum zerstört oder geplündert wurde. wie bei der Enthüllung des Stein-
Denkmals in Berlin — als Landfriedensbruch d. h. mit Zuchthaus bis zu
zehn Jahren an jedem Rädelsführer oder Gewaltthätigen zu bestrafen sind.
Ueberhaupt werden die schweren Fälle von Widerstand, bei denen die Unbot-
mäßigkeit Mehrerer zu bewältigen ist. sich fast stets als Aufruhr. Befreiung
von Gefangenen u. s. w. qualifiziren lassen. Es fehlt also keineswegs an
demjenigen Schutz, den das Gesetz den Dienern der Ordnung angedeihen
lassen muß. Und so oft solche Fälle vorlagen — wir erinnern an die Ber¬
liner Aufruhrscenen im Friedrichshain vor zwei Jahren, an den Frankfurter
Landfriedensbruch. an die Leipziger Pleißengassenexcesse u. s. w. — hat die
gesammte deutsche Justiz mit untadelicher Strenge gestraft. Andrerseits ist
aber auch darauf zu verweisen. daß nicht blos der im Vergleich zu England
durchschnittlich geringere Respect vor den Executivbeamten ein deutscher
Fehler ist. sondern auch die größere Empfindlichkeit und der geringere Takt
dieser Beamten, vor Allem aber ihre Virtuosität in der Handhabung ihres
Pflichteides. Und wenn daher die Motive anführen, daß „Seitens der Ver¬
waltungsbehörden mannigfache Klagen darüber geführt werden". daß die von
den Gerichten verhängten Strafen zu milde seien, so fehlt jeder Nachweis über
die wirkliche Berechtigung und den Werth dieser Klagen, zumal Jedem, der
in solchen Sachen als Richter. Ankläger oder Vertheidiger gearbeitet hat. be¬
kannt ist. daß die Verwaltungsbehörden den jeweiligen Thatbestand un¬
erschütterlich und in alle Ewigkeit sich so vorstellen, wie die pflichteidliche
Aussage ihres Beamten ihn darstellt, der Richter aber den Werth aller
Beweismittel nach seiner freien Ueberzeugung abwägt und danach urtheilt.
Es liegt nicht die geringste Veranlassung vor. im Jahre 1875 über die
Fähigkeit und Gerechtigkeit des deutschen Nichterstandes geringer zu denken,
als 1870. Darum sollte jede von der Novelle versuchte Aenderung vom
Reichstag versagt werden, welche die Freiheit der richterlichen Thätigkeit und
Ueberzeugung im Vergleich zum bisherigen Strafrecht verkümmert. Dahin
gehören die Bestimmungen der Novelle, welche höhere Strafminima vorschlagen.
Dahin gehört auch der unglückselige Vorschlag, neue Arten und Grade des
Versuchs einzuführen. Schon die Motive zum Strafgesetzbuch von 1870 ver¬
warfen eine solche als unwissenschaftlich und thöricht. Nun sollen gar die
Versuchsstadien des seligen. Revidirten Kgl. Sächsischen Strafgesetzbuchs aus
ihrer verdienten Grabesruhe wieder hervorgeholt und in Reichsdienst einge¬
stellt werden. jene berufene Scala von Vorbereitungs- und Versuchshand-


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[0449] Excesse, an welche der Reichskanzler in seiner Rede vorzugsweise gedacht haben mag. die Pöbelangriffe auf die Polizeimannschaften bei den jüngsten Bränden und Festen der Reichshauptstadt, gar nicht mehr blos unter den Widerstands¬ paragraphen fallen, sondern als Aufruhr und sogar — soweit dabei Eigen¬ thum zerstört oder geplündert wurde. wie bei der Enthüllung des Stein- Denkmals in Berlin — als Landfriedensbruch d. h. mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren an jedem Rädelsführer oder Gewaltthätigen zu bestrafen sind. Ueberhaupt werden die schweren Fälle von Widerstand, bei denen die Unbot- mäßigkeit Mehrerer zu bewältigen ist. sich fast stets als Aufruhr. Befreiung von Gefangenen u. s. w. qualifiziren lassen. Es fehlt also keineswegs an demjenigen Schutz, den das Gesetz den Dienern der Ordnung angedeihen lassen muß. Und so oft solche Fälle vorlagen — wir erinnern an die Ber¬ liner Aufruhrscenen im Friedrichshain vor zwei Jahren, an den Frankfurter Landfriedensbruch. an die Leipziger Pleißengassenexcesse u. s. w. — hat die gesammte deutsche Justiz mit untadelicher Strenge gestraft. Andrerseits ist aber auch darauf zu verweisen. daß nicht blos der im Vergleich zu England durchschnittlich geringere Respect vor den Executivbeamten ein deutscher Fehler ist. sondern auch die größere Empfindlichkeit und der geringere Takt dieser Beamten, vor Allem aber ihre Virtuosität in der Handhabung ihres Pflichteides. Und wenn daher die Motive anführen, daß „Seitens der Ver¬ waltungsbehörden mannigfache Klagen darüber geführt werden". daß die von den Gerichten verhängten Strafen zu milde seien, so fehlt jeder Nachweis über die wirkliche Berechtigung und den Werth dieser Klagen, zumal Jedem, der in solchen Sachen als Richter. Ankläger oder Vertheidiger gearbeitet hat. be¬ kannt ist. daß die Verwaltungsbehörden den jeweiligen Thatbestand un¬ erschütterlich und in alle Ewigkeit sich so vorstellen, wie die pflichteidliche Aussage ihres Beamten ihn darstellt, der Richter aber den Werth aller Beweismittel nach seiner freien Ueberzeugung abwägt und danach urtheilt. Es liegt nicht die geringste Veranlassung vor. im Jahre 1875 über die Fähigkeit und Gerechtigkeit des deutschen Nichterstandes geringer zu denken, als 1870. Darum sollte jede von der Novelle versuchte Aenderung vom Reichstag versagt werden, welche die Freiheit der richterlichen Thätigkeit und Ueberzeugung im Vergleich zum bisherigen Strafrecht verkümmert. Dahin gehören die Bestimmungen der Novelle, welche höhere Strafminima vorschlagen. Dahin gehört auch der unglückselige Vorschlag, neue Arten und Grade des Versuchs einzuführen. Schon die Motive zum Strafgesetzbuch von 1870 ver¬ warfen eine solche als unwissenschaftlich und thöricht. Nun sollen gar die Versuchsstadien des seligen. Revidirten Kgl. Sächsischen Strafgesetzbuchs aus ihrer verdienten Grabesruhe wieder hervorgeholt und in Reichsdienst einge¬ stellt werden. jene berufene Scala von Vorbereitungs- und Versuchshand-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/449>, abgerufen am 22.07.2024.