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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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liefert als der vor zwei Jahren verstorbene Agassiz. Ein Gelehrter wie er,
der. selbst ein Bahnbrecher auf dem Gebiete der Wissenschaft, allen Fortschritten,
die Andere herbeiführten.' und allen Fragen. die laut wurden. seine eifrige
Aufmerksamkeit zuzuwenden gewohnt war. fühlte sich selbstverständlich veran¬
laßt, auch über die alle Welt aufregende Theorie Darwin's seine Meinung kund
zu geben. Ja er war gewissermaßen dazu genöthigt, insofern die Vertreter
dieser Lehre ein wichtiges. von ihm zuerst erkanntes und nachgewiesenes all¬
gemeines Naturgesetz, das der geologischen Entwickelung des thierischen Or¬
ganismus oder der gesetzmäßigen Aufeinanderfolge der Thiere auf der Erd¬
oberfläche in irrthümlicher Auffassung zur Stütze ihrer Theorie verwendeten.
1873 begann er jene Absicht mit zwölf Vorlesungen auszuführen, die von der
gegenwärtigen Thterschöpsung handelten, und die wir hier in der Uebersetzung
vor uns haben. Weitere Vorträge, welche die Entwickelung des thierischen
Organismus in früheren Schöpfungsperioden ins Auge fassen sollten, blieben
ungehalten, da Agassiz inzwischen mit Tod abging. Aber auch ohne diese
Ergänzung ist das vorliegende Buch von hohem Interesse selbst für Anhänger
der Darwinschen Transmutationslehre, gegen die es sich richtet. Agassiz war
ein Gegner derselben, einmal, weil er die Beständigkeit der Species als fest¬
stehend ansah, dann aber weil er die vielen Fälle der Paläontologie, in denen
ältere Formen früherer Epochen vollkommener sind, als die späterer Zeiten,
als mit einer allmählichen Entwickelung im Widerspruch stehend erkannte. Er
sagt, indem er sich gegen die Descendenztheorie erklärt:

"Die meisten Zoologen behaupten. daß es keine andere Verwandtschaft
giebt, als die der Abkunft von einem gemeinsamen Urstämme. Diese Abstam¬
mung aber können wir nicht in der Natur verfolgen. Wir können die Thiere
nur anatomisch und physiologisch mit einander vergleichen, können der Art
und Weise ihrer individuellen Entwickelung folgen, ihre Lebensweise beobachten,
ihre geographische Verbreitung ermitteln. ihre allmälige Aufeinanderfolge in
den verschiedenen geologischen Perioden erforschen, und indem wir die Resul¬
tate aller dieser Untersuchungen und Beobachtungen zusammenfassen, dann die
Thiere nach ihrer Aehnlichkeit, dem Grade der Verwandtschaft gruMren.
Aber weiter gehen und behaupten, daß die Thiere weil sie einander ähnlich
sind, auch von einander abstammen, heißt etwas behaupten, wovon wir ^rch-
aus keine Kenntniß haben." "Ich möchte klar und bestimmt, in einer Wnse,
die nicht mißverstanden werden kann, feststellen, daß die Naturforscher auf
der gegenwärtigen Stufe ihrer Wissenschaft keinen einzigen directen Beweis
für die ursprüngliche Herkunft irgendwelcher specifisch verschiedener Thiere bei¬
bringen können. Sie haben keine einzige unmittelbare Beobachtung, worauf
sie eine solche Theorie gründen können, ausgenommen den Grad der Aehnlich¬
keit der Organisation und der Funktionen der Thiere." Was sie sonst vor-


liefert als der vor zwei Jahren verstorbene Agassiz. Ein Gelehrter wie er,
der. selbst ein Bahnbrecher auf dem Gebiete der Wissenschaft, allen Fortschritten,
die Andere herbeiführten.' und allen Fragen. die laut wurden. seine eifrige
Aufmerksamkeit zuzuwenden gewohnt war. fühlte sich selbstverständlich veran¬
laßt, auch über die alle Welt aufregende Theorie Darwin's seine Meinung kund
zu geben. Ja er war gewissermaßen dazu genöthigt, insofern die Vertreter
dieser Lehre ein wichtiges. von ihm zuerst erkanntes und nachgewiesenes all¬
gemeines Naturgesetz, das der geologischen Entwickelung des thierischen Or¬
ganismus oder der gesetzmäßigen Aufeinanderfolge der Thiere auf der Erd¬
oberfläche in irrthümlicher Auffassung zur Stütze ihrer Theorie verwendeten.
1873 begann er jene Absicht mit zwölf Vorlesungen auszuführen, die von der
gegenwärtigen Thterschöpsung handelten, und die wir hier in der Uebersetzung
vor uns haben. Weitere Vorträge, welche die Entwickelung des thierischen
Organismus in früheren Schöpfungsperioden ins Auge fassen sollten, blieben
ungehalten, da Agassiz inzwischen mit Tod abging. Aber auch ohne diese
Ergänzung ist das vorliegende Buch von hohem Interesse selbst für Anhänger
der Darwinschen Transmutationslehre, gegen die es sich richtet. Agassiz war
ein Gegner derselben, einmal, weil er die Beständigkeit der Species als fest¬
stehend ansah, dann aber weil er die vielen Fälle der Paläontologie, in denen
ältere Formen früherer Epochen vollkommener sind, als die späterer Zeiten,
als mit einer allmählichen Entwickelung im Widerspruch stehend erkannte. Er
sagt, indem er sich gegen die Descendenztheorie erklärt:

„Die meisten Zoologen behaupten. daß es keine andere Verwandtschaft
giebt, als die der Abkunft von einem gemeinsamen Urstämme. Diese Abstam¬
mung aber können wir nicht in der Natur verfolgen. Wir können die Thiere
nur anatomisch und physiologisch mit einander vergleichen, können der Art
und Weise ihrer individuellen Entwickelung folgen, ihre Lebensweise beobachten,
ihre geographische Verbreitung ermitteln. ihre allmälige Aufeinanderfolge in
den verschiedenen geologischen Perioden erforschen, und indem wir die Resul¬
tate aller dieser Untersuchungen und Beobachtungen zusammenfassen, dann die
Thiere nach ihrer Aehnlichkeit, dem Grade der Verwandtschaft gruMren.
Aber weiter gehen und behaupten, daß die Thiere weil sie einander ähnlich
sind, auch von einander abstammen, heißt etwas behaupten, wovon wir ^rch-
aus keine Kenntniß haben." „Ich möchte klar und bestimmt, in einer Wnse,
die nicht mißverstanden werden kann, feststellen, daß die Naturforscher auf
der gegenwärtigen Stufe ihrer Wissenschaft keinen einzigen directen Beweis
für die ursprüngliche Herkunft irgendwelcher specifisch verschiedener Thiere bei¬
bringen können. Sie haben keine einzige unmittelbare Beobachtung, worauf
sie eine solche Theorie gründen können, ausgenommen den Grad der Aehnlich¬
keit der Organisation und der Funktionen der Thiere." Was sie sonst vor-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/383>, abgerufen am 22.07.2024.