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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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Tons, des Geschmacks, der gesammten Bewegung, des Gestoßenseins) schließen
wir auf Dinge außer uns, die sie veranlassen ; ebenso aus Gedanken und
sittlichen Thaten auf selbstseiende Wesen, die sie hervorbringen, aus dem Ge¬
bot der Pflicht, der Unterscheidung von Gut und Bös auf eine sittliche
Weltordnung, aus unserer Unbefriedigung am Endlichen auf ein Unendliches,
und nur darum können wir etwas mangelhaft und unvollkommen meinen,
weil die Kategorie des Vollkommenen als Gesichtspunkt und Richtmaß der Be¬
urtheilung in uns liegt. Nur dadurch ist der Vervollkommnungsdrang, die
Selbstvervollkommnung möglich. Den Werth der Ideen und Ideale fühlen
wir in der Beseligung, die sie uns gewähren, unsre Menschenwürde beruht
auf ihnen, wir sind durch sie ethische Naturen, und vermögen um dieses Adels
willen die sinnlichen Güter und Genüsse, ja das ganze Sinnendasein zu opfern;
und sie sollten nicht dieselbe Realität haben wie Anschauungen der Sinnen-
Welt? Der Vernunftschluß auf Dinge außer uns von unsern Empfindungen
und Anschauungen aus nach dem Causalgesetz ist nicht berechtigter als der
Vernunftschluß auf die Seele und auf Gott aus unserm Selbstgefühl und aus
den Ideen des Guten. Wahren und Schönen, aus unserer sittlichen Selbst¬
erfahrung, aus Gewissen und Selbstvervollkommnung.

Wie löst sich der Widerspruch bei Scherr? Eine wohlaufzuwerfende
Frage, da ein ähnlicher Widerspruch sich bei vielen Zeitgenossen findet. Scherr
ist Idealist mit dem Herzen, seine Praxis ist besser wie seine Theorie, in der
Welt, die er einen Humbug schimpft, kämpft er für Menschenwürde und
Menschenwohl, unbestechlich, unerschütterlich, mit dem Muthe der Ueber¬
zeugung, mit der Treue für das Ideal. Aber er hat wahrscheinlich einmal
Feuerbach und Schopenhauer gelesen und ihren blendenden Behauptungen
sich gefangen gegeben, und es schmeichelt ja dem Menschen ein Titane zu sein,
in Freigeistern den freien Geist zu erweisen, das weiß Jeder aus seinen Stu¬
dententagen. Dabei liebt Scherr die burschikose Redeweise. Schwerlich ist
er dem Entwicklungsgange der neueren Philosophie so gefolgt, daß er Schriften
von Ulrici (Gott und Natur, eben in dritter Auflage erschienen), Fichte,
Lotze und Andere unbefangen und gründlich studirt hat. Sind aber die
Ideale Täuschung, dann hat der Materialismus des Kopfes und Herzens
Recht, und wir sind schwachköpsige Thoren. Ist der Mensch, wie Feuerbach
sagt, was er ißt, dann hat der Idealismus keine Berechtigung. Aus der
Halbheit müssen die Zeitgenossen heraus zum Jdealrealismus, und da stütze
ich mit Kant die Realität des Idealen auf das Gewissen das sittliche Selbst¬
,
M. Carriere. bewußtsein.




Tons, des Geschmacks, der gesammten Bewegung, des Gestoßenseins) schließen
wir auf Dinge außer uns, die sie veranlassen ; ebenso aus Gedanken und
sittlichen Thaten auf selbstseiende Wesen, die sie hervorbringen, aus dem Ge¬
bot der Pflicht, der Unterscheidung von Gut und Bös auf eine sittliche
Weltordnung, aus unserer Unbefriedigung am Endlichen auf ein Unendliches,
und nur darum können wir etwas mangelhaft und unvollkommen meinen,
weil die Kategorie des Vollkommenen als Gesichtspunkt und Richtmaß der Be¬
urtheilung in uns liegt. Nur dadurch ist der Vervollkommnungsdrang, die
Selbstvervollkommnung möglich. Den Werth der Ideen und Ideale fühlen
wir in der Beseligung, die sie uns gewähren, unsre Menschenwürde beruht
auf ihnen, wir sind durch sie ethische Naturen, und vermögen um dieses Adels
willen die sinnlichen Güter und Genüsse, ja das ganze Sinnendasein zu opfern;
und sie sollten nicht dieselbe Realität haben wie Anschauungen der Sinnen-
Welt? Der Vernunftschluß auf Dinge außer uns von unsern Empfindungen
und Anschauungen aus nach dem Causalgesetz ist nicht berechtigter als der
Vernunftschluß auf die Seele und auf Gott aus unserm Selbstgefühl und aus
den Ideen des Guten. Wahren und Schönen, aus unserer sittlichen Selbst¬
erfahrung, aus Gewissen und Selbstvervollkommnung.

Wie löst sich der Widerspruch bei Scherr? Eine wohlaufzuwerfende
Frage, da ein ähnlicher Widerspruch sich bei vielen Zeitgenossen findet. Scherr
ist Idealist mit dem Herzen, seine Praxis ist besser wie seine Theorie, in der
Welt, die er einen Humbug schimpft, kämpft er für Menschenwürde und
Menschenwohl, unbestechlich, unerschütterlich, mit dem Muthe der Ueber¬
zeugung, mit der Treue für das Ideal. Aber er hat wahrscheinlich einmal
Feuerbach und Schopenhauer gelesen und ihren blendenden Behauptungen
sich gefangen gegeben, und es schmeichelt ja dem Menschen ein Titane zu sein,
in Freigeistern den freien Geist zu erweisen, das weiß Jeder aus seinen Stu¬
dententagen. Dabei liebt Scherr die burschikose Redeweise. Schwerlich ist
er dem Entwicklungsgange der neueren Philosophie so gefolgt, daß er Schriften
von Ulrici (Gott und Natur, eben in dritter Auflage erschienen), Fichte,
Lotze und Andere unbefangen und gründlich studirt hat. Sind aber die
Ideale Täuschung, dann hat der Materialismus des Kopfes und Herzens
Recht, und wir sind schwachköpsige Thoren. Ist der Mensch, wie Feuerbach
sagt, was er ißt, dann hat der Idealismus keine Berechtigung. Aus der
Halbheit müssen die Zeitgenossen heraus zum Jdealrealismus, und da stütze
ich mit Kant die Realität des Idealen auf das Gewissen das sittliche Selbst¬
,
M. Carriere. bewußtsein.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/332>, abgerufen am 22.07.2024.