Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Man darf es nicht übersehen, daß die germanischen Nationen ihr christ¬
liches Leben mit einer Häresie begannen und im 16. Jahrhundert mit einer
solchen erneuerten, und muß es als einen Vorzug ihres selvstständigen Cha¬
rakters und freiforschenden Geistes preisen, daß sie sich nicht auf die Dauer
den Bannformeln fremder Herrschaft willenlos fügten und das Licht der Heils¬
lehre nur in der ihrem Auge angemessenen Brechung aufnehmen wollten.
Schon in dieser Hinsicht waren Ulfilas und Luther Männer echt deutschen
Gepräges. Beide suchten die Wahrheit auf eigenen Wegen, beide erkannten
in der Bibel und nur in ihr den belebenden Quell der Religiosität und über¬
lieferten sie daher ihrem Volke in heimischer Rede. In diesen sprachbildenden
Werken schufen Beide ein Band, welches ihre Nationen enger zusammen¬
schlang und wie Luther durch Erschaffung der Schriftsprache den Grund zur
ganzen folgenden Kulturentwickelung in dem Lande zwischen Rhein und
Weichsel legte, so ist erst durch die Uebersetzung des Ulfilas der Neuzeit die
Möglichkeit geboten zur großartigen wissenschaftlichen Erforschung des Deut¬
schen. Beide aber waren nicht nur Glaubensboten und Lehrer, sondern griffen
auch in entscheidenden Augenblicken mit Rath und Ermahnung wirksam in
die politischen Schicksale ihres Volkes ein und niemals sollten wir vergessen,
daß in alter und neuer Zeit zweimal das deutsche Leben seinen Aufschwung
Geburt und Wiedergeburt, religiösen Einflüssen verdankte, niemals diese beiden
Männer, von denen jene Wirkungen ausgingen.




Die norddeutschen Hymnasien und die sprachlichen Be¬
dürfnisse gemischter Bevölkerungen.

In Landschaften mit stark gemischter Bevölkerung ist die Frage, welche
Sprache in den Schulen als Unterrichtssprache anzuwenden oder wie die Sprache
der beherrschten Minderheit sonst zu behandeln sei, sicher eine der schwierig¬
sten und verwickeltsten; sie hat oft den Gegenstand lebhaftesten Kampfes
Zwischen den verschiedenen Nationalitäten gebildet, und ist sehr häufig von Ge¬
sichtspunkten aus beurtheilt und entschieden worden, die eher alles andere
sind als pädagogische. Unter den europäischen Culturstaaten hat sicherlich
Oesterreich-Ungarn am meisten mit dieser Frage zu thun, da es fast in allen
seinen Kronländer eine mehr oder weniger große Vielheit von Volksstämmen
aufweist. Das deutsche Reich ist glücklicher dran; zählt es doch unter 41
Millionen Einwohner nur etwas über 3 Millionen (3,240,000) Köpfe nicht-


Man darf es nicht übersehen, daß die germanischen Nationen ihr christ¬
liches Leben mit einer Häresie begannen und im 16. Jahrhundert mit einer
solchen erneuerten, und muß es als einen Vorzug ihres selvstständigen Cha¬
rakters und freiforschenden Geistes preisen, daß sie sich nicht auf die Dauer
den Bannformeln fremder Herrschaft willenlos fügten und das Licht der Heils¬
lehre nur in der ihrem Auge angemessenen Brechung aufnehmen wollten.
Schon in dieser Hinsicht waren Ulfilas und Luther Männer echt deutschen
Gepräges. Beide suchten die Wahrheit auf eigenen Wegen, beide erkannten
in der Bibel und nur in ihr den belebenden Quell der Religiosität und über¬
lieferten sie daher ihrem Volke in heimischer Rede. In diesen sprachbildenden
Werken schufen Beide ein Band, welches ihre Nationen enger zusammen¬
schlang und wie Luther durch Erschaffung der Schriftsprache den Grund zur
ganzen folgenden Kulturentwickelung in dem Lande zwischen Rhein und
Weichsel legte, so ist erst durch die Uebersetzung des Ulfilas der Neuzeit die
Möglichkeit geboten zur großartigen wissenschaftlichen Erforschung des Deut¬
schen. Beide aber waren nicht nur Glaubensboten und Lehrer, sondern griffen
auch in entscheidenden Augenblicken mit Rath und Ermahnung wirksam in
die politischen Schicksale ihres Volkes ein und niemals sollten wir vergessen,
daß in alter und neuer Zeit zweimal das deutsche Leben seinen Aufschwung
Geburt und Wiedergeburt, religiösen Einflüssen verdankte, niemals diese beiden
Männer, von denen jene Wirkungen ausgingen.




Die norddeutschen Hymnasien und die sprachlichen Be¬
dürfnisse gemischter Bevölkerungen.

In Landschaften mit stark gemischter Bevölkerung ist die Frage, welche
Sprache in den Schulen als Unterrichtssprache anzuwenden oder wie die Sprache
der beherrschten Minderheit sonst zu behandeln sei, sicher eine der schwierig¬
sten und verwickeltsten; sie hat oft den Gegenstand lebhaftesten Kampfes
Zwischen den verschiedenen Nationalitäten gebildet, und ist sehr häufig von Ge¬
sichtspunkten aus beurtheilt und entschieden worden, die eher alles andere
sind als pädagogische. Unter den europäischen Culturstaaten hat sicherlich
Oesterreich-Ungarn am meisten mit dieser Frage zu thun, da es fast in allen
seinen Kronländer eine mehr oder weniger große Vielheit von Volksstämmen
aufweist. Das deutsche Reich ist glücklicher dran; zählt es doch unter 41
Millionen Einwohner nur etwas über 3 Millionen (3,240,000) Köpfe nicht-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0025" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/134371"/>
          <p xml:id="ID_49" prev="#ID_48"> Man darf es nicht übersehen, daß die germanischen Nationen ihr christ¬<lb/>
liches Leben mit einer Häresie begannen und im 16. Jahrhundert mit einer<lb/>
solchen erneuerten, und muß es als einen Vorzug ihres selvstständigen Cha¬<lb/>
rakters und freiforschenden Geistes preisen, daß sie sich nicht auf die Dauer<lb/>
den Bannformeln fremder Herrschaft willenlos fügten und das Licht der Heils¬<lb/>
lehre nur in der ihrem Auge angemessenen Brechung aufnehmen wollten.<lb/>
Schon in dieser Hinsicht waren Ulfilas und Luther Männer echt deutschen<lb/>
Gepräges. Beide suchten die Wahrheit auf eigenen Wegen, beide erkannten<lb/>
in der Bibel und nur in ihr den belebenden Quell der Religiosität und über¬<lb/>
lieferten sie daher ihrem Volke in heimischer Rede. In diesen sprachbildenden<lb/>
Werken schufen Beide ein Band, welches ihre Nationen enger zusammen¬<lb/>
schlang und wie Luther durch Erschaffung der Schriftsprache den Grund zur<lb/>
ganzen folgenden Kulturentwickelung in dem Lande zwischen Rhein und<lb/>
Weichsel legte, so ist erst durch die Uebersetzung des Ulfilas der Neuzeit die<lb/>
Möglichkeit geboten zur großartigen wissenschaftlichen Erforschung des Deut¬<lb/>
schen. Beide aber waren nicht nur Glaubensboten und Lehrer, sondern griffen<lb/>
auch in entscheidenden Augenblicken mit Rath und Ermahnung wirksam in<lb/>
die politischen Schicksale ihres Volkes ein und niemals sollten wir vergessen,<lb/>
daß in alter und neuer Zeit zweimal das deutsche Leben seinen Aufschwung<lb/>
Geburt und Wiedergeburt, religiösen Einflüssen verdankte, niemals diese beiden<lb/>
Männer, von denen jene Wirkungen ausgingen.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die norddeutschen Hymnasien und die sprachlichen Be¬<lb/>
dürfnisse gemischter Bevölkerungen.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_50" next="#ID_51"> In Landschaften mit stark gemischter Bevölkerung ist die Frage, welche<lb/>
Sprache in den Schulen als Unterrichtssprache anzuwenden oder wie die Sprache<lb/>
der beherrschten Minderheit sonst zu behandeln sei, sicher eine der schwierig¬<lb/>
sten und verwickeltsten; sie hat oft den Gegenstand lebhaftesten Kampfes<lb/>
Zwischen den verschiedenen Nationalitäten gebildet, und ist sehr häufig von Ge¬<lb/>
sichtspunkten aus beurtheilt und entschieden worden, die eher alles andere<lb/>
sind als pädagogische. Unter den europäischen Culturstaaten hat sicherlich<lb/>
Oesterreich-Ungarn am meisten mit dieser Frage zu thun, da es fast in allen<lb/>
seinen Kronländer eine mehr oder weniger große Vielheit von Volksstämmen<lb/>
aufweist. Das deutsche Reich ist glücklicher dran; zählt es doch unter 41<lb/>
Millionen Einwohner nur etwas über 3 Millionen (3,240,000) Köpfe nicht-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0025] Man darf es nicht übersehen, daß die germanischen Nationen ihr christ¬ liches Leben mit einer Häresie begannen und im 16. Jahrhundert mit einer solchen erneuerten, und muß es als einen Vorzug ihres selvstständigen Cha¬ rakters und freiforschenden Geistes preisen, daß sie sich nicht auf die Dauer den Bannformeln fremder Herrschaft willenlos fügten und das Licht der Heils¬ lehre nur in der ihrem Auge angemessenen Brechung aufnehmen wollten. Schon in dieser Hinsicht waren Ulfilas und Luther Männer echt deutschen Gepräges. Beide suchten die Wahrheit auf eigenen Wegen, beide erkannten in der Bibel und nur in ihr den belebenden Quell der Religiosität und über¬ lieferten sie daher ihrem Volke in heimischer Rede. In diesen sprachbildenden Werken schufen Beide ein Band, welches ihre Nationen enger zusammen¬ schlang und wie Luther durch Erschaffung der Schriftsprache den Grund zur ganzen folgenden Kulturentwickelung in dem Lande zwischen Rhein und Weichsel legte, so ist erst durch die Uebersetzung des Ulfilas der Neuzeit die Möglichkeit geboten zur großartigen wissenschaftlichen Erforschung des Deut¬ schen. Beide aber waren nicht nur Glaubensboten und Lehrer, sondern griffen auch in entscheidenden Augenblicken mit Rath und Ermahnung wirksam in die politischen Schicksale ihres Volkes ein und niemals sollten wir vergessen, daß in alter und neuer Zeit zweimal das deutsche Leben seinen Aufschwung Geburt und Wiedergeburt, religiösen Einflüssen verdankte, niemals diese beiden Männer, von denen jene Wirkungen ausgingen. Die norddeutschen Hymnasien und die sprachlichen Be¬ dürfnisse gemischter Bevölkerungen. In Landschaften mit stark gemischter Bevölkerung ist die Frage, welche Sprache in den Schulen als Unterrichtssprache anzuwenden oder wie die Sprache der beherrschten Minderheit sonst zu behandeln sei, sicher eine der schwierig¬ sten und verwickeltsten; sie hat oft den Gegenstand lebhaftesten Kampfes Zwischen den verschiedenen Nationalitäten gebildet, und ist sehr häufig von Ge¬ sichtspunkten aus beurtheilt und entschieden worden, die eher alles andere sind als pädagogische. Unter den europäischen Culturstaaten hat sicherlich Oesterreich-Ungarn am meisten mit dieser Frage zu thun, da es fast in allen seinen Kronländer eine mehr oder weniger große Vielheit von Volksstämmen aufweist. Das deutsche Reich ist glücklicher dran; zählt es doch unter 41 Millionen Einwohner nur etwas über 3 Millionen (3,240,000) Köpfe nicht-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/25
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/25>, abgerufen am 22.07.2024.