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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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lische Civilisation im Wesentlichen besteht. Beiläufig gesagt, erfuhr ich später,
daß der Lackstiefel-Türke aus Konstantinopel gekommen war, um die Steuer¬
kasse des würdigen Mudir zu revidiren, und daß er bei dieser Gelegenheit
einen Abgang von zweimalhunderttausend Piastern -- etwa vierzigtausend
Mark -- gesunden hatte. Ob der Mudir diese Summe ersetzt hat oder nicht,
ist mir nicht bekannt geworden. Ich erfuhr nur nach einiger Zeit, daß er
später infolge dieser kleinen Unregelmäßigkeit seine Stelle mit einer andern
in Damaskus vertauschen mußte (wo man ihm vielleicht ein wenig besser auf
die Finger sehen konnte). Da ein Mudir in seiner Person den Ortsvorstand
oder Bürgermeister, den Richter, die politische Behörde und den Steuerein¬
nehmer vereinigt, so läßt sich die rücksichtsvolle Behandlung eines so wichtigen
Beamten wohl erklären" -- zumal wenn man weiß, wie der Türke die öffent¬
lichen Kassen ansieht, und daß Mudire wie alle Angestellte im Reiche des
Padischa nur selten ihren Gehalt regelmäßig und vollständig ausgezahlt be¬
kommen.

"Der Mudir und sein Gast grüßten uns höflich, doch ohne aufzustehen,
und nachdem wir beide Platz genommen hatten, bot der Mudir mir, als
dem "fremden Effendi", den Schlauch seines eignen Nargilel) an. während er
sich selbst einen Tschibbuk geben ließ. Da gerade eine gerichtliche Verhand¬
lung vorgenommen werden sollte, so ersuchte er mich, ihm zu erlauben, daß
er dieselbe erledige, worauf er mir zu Diensten stehen oder, wie er sich artig
ausdrückte, "sich meiner Anwesenheit erfreuen wolle." Darauf klatschte er in
die Hände (was unter den Türken unser Klingeln vertritt), und zwei Diener
traten ein. Der eine zog aus dem Gürtel ein kleines metallnes Schreibzeug,
welches neben dem Tintenfaß zugleich das Federfutteral enthielt, und das er
stehend seinem Gebieter hinhielt. Der andere schob einen sehr defect geklei¬
deten alten Bauer vor sich her, der ein durchlöchertes Feß in den Händen
hielt, während von seinem von den Schläfen und dem Nacken bis zum Scheitel
glatt rasirten Kopfe rückwärts ein dünner Zopf herabbaumelte. Ein Mädchen
im Al^r von dreizehn oder vierzehn Jahren folgte. Sie trug weite Pump¬
hosen von blauer Leinwand, keine Schuhe und keine Strümpfe und ein enges,
vorne offnes, gleichfalls blaues Jäckchen. Zwei prachtvolle braune Zöpfe
hingen ihr fettgetränkt über die Schultern. Hände und Füße waren roth
vom Einflüsse der wechselnden Witterung und vielleicht auch von schwerer
Arbeit, aber ihr fein geschnittnes Gesicht war das einer Juno und ihr Wuchs
der einer Hebe. Sie weinte.

Die Verhandlung spielte sich sehr glatt ab. Ein gewisser Hussein Beg
hatte dem Bauer den Tabak wegnehmen lassen, den derselbe geerntet und zu¬
bereitet hatte. Dazu war er vollkommen berechtigt; denn der Tabak war
"uf seinem, Hussein Begs, Grund und Boden gewachsen. Vielleicht hätte


lische Civilisation im Wesentlichen besteht. Beiläufig gesagt, erfuhr ich später,
daß der Lackstiefel-Türke aus Konstantinopel gekommen war, um die Steuer¬
kasse des würdigen Mudir zu revidiren, und daß er bei dieser Gelegenheit
einen Abgang von zweimalhunderttausend Piastern — etwa vierzigtausend
Mark — gesunden hatte. Ob der Mudir diese Summe ersetzt hat oder nicht,
ist mir nicht bekannt geworden. Ich erfuhr nur nach einiger Zeit, daß er
später infolge dieser kleinen Unregelmäßigkeit seine Stelle mit einer andern
in Damaskus vertauschen mußte (wo man ihm vielleicht ein wenig besser auf
die Finger sehen konnte). Da ein Mudir in seiner Person den Ortsvorstand
oder Bürgermeister, den Richter, die politische Behörde und den Steuerein¬
nehmer vereinigt, so läßt sich die rücksichtsvolle Behandlung eines so wichtigen
Beamten wohl erklären" — zumal wenn man weiß, wie der Türke die öffent¬
lichen Kassen ansieht, und daß Mudire wie alle Angestellte im Reiche des
Padischa nur selten ihren Gehalt regelmäßig und vollständig ausgezahlt be¬
kommen.

„Der Mudir und sein Gast grüßten uns höflich, doch ohne aufzustehen,
und nachdem wir beide Platz genommen hatten, bot der Mudir mir, als
dem „fremden Effendi", den Schlauch seines eignen Nargilel) an. während er
sich selbst einen Tschibbuk geben ließ. Da gerade eine gerichtliche Verhand¬
lung vorgenommen werden sollte, so ersuchte er mich, ihm zu erlauben, daß
er dieselbe erledige, worauf er mir zu Diensten stehen oder, wie er sich artig
ausdrückte, „sich meiner Anwesenheit erfreuen wolle." Darauf klatschte er in
die Hände (was unter den Türken unser Klingeln vertritt), und zwei Diener
traten ein. Der eine zog aus dem Gürtel ein kleines metallnes Schreibzeug,
welches neben dem Tintenfaß zugleich das Federfutteral enthielt, und das er
stehend seinem Gebieter hinhielt. Der andere schob einen sehr defect geklei¬
deten alten Bauer vor sich her, der ein durchlöchertes Feß in den Händen
hielt, während von seinem von den Schläfen und dem Nacken bis zum Scheitel
glatt rasirten Kopfe rückwärts ein dünner Zopf herabbaumelte. Ein Mädchen
im Al^r von dreizehn oder vierzehn Jahren folgte. Sie trug weite Pump¬
hosen von blauer Leinwand, keine Schuhe und keine Strümpfe und ein enges,
vorne offnes, gleichfalls blaues Jäckchen. Zwei prachtvolle braune Zöpfe
hingen ihr fettgetränkt über die Schultern. Hände und Füße waren roth
vom Einflüsse der wechselnden Witterung und vielleicht auch von schwerer
Arbeit, aber ihr fein geschnittnes Gesicht war das einer Juno und ihr Wuchs
der einer Hebe. Sie weinte.

Die Verhandlung spielte sich sehr glatt ab. Ein gewisser Hussein Beg
hatte dem Bauer den Tabak wegnehmen lassen, den derselbe geerntet und zu¬
bereitet hatte. Dazu war er vollkommen berechtigt; denn der Tabak war
«uf seinem, Hussein Begs, Grund und Boden gewachsen. Vielleicht hätte


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[0227] lische Civilisation im Wesentlichen besteht. Beiläufig gesagt, erfuhr ich später, daß der Lackstiefel-Türke aus Konstantinopel gekommen war, um die Steuer¬ kasse des würdigen Mudir zu revidiren, und daß er bei dieser Gelegenheit einen Abgang von zweimalhunderttausend Piastern — etwa vierzigtausend Mark — gesunden hatte. Ob der Mudir diese Summe ersetzt hat oder nicht, ist mir nicht bekannt geworden. Ich erfuhr nur nach einiger Zeit, daß er später infolge dieser kleinen Unregelmäßigkeit seine Stelle mit einer andern in Damaskus vertauschen mußte (wo man ihm vielleicht ein wenig besser auf die Finger sehen konnte). Da ein Mudir in seiner Person den Ortsvorstand oder Bürgermeister, den Richter, die politische Behörde und den Steuerein¬ nehmer vereinigt, so läßt sich die rücksichtsvolle Behandlung eines so wichtigen Beamten wohl erklären" — zumal wenn man weiß, wie der Türke die öffent¬ lichen Kassen ansieht, und daß Mudire wie alle Angestellte im Reiche des Padischa nur selten ihren Gehalt regelmäßig und vollständig ausgezahlt be¬ kommen. „Der Mudir und sein Gast grüßten uns höflich, doch ohne aufzustehen, und nachdem wir beide Platz genommen hatten, bot der Mudir mir, als dem „fremden Effendi", den Schlauch seines eignen Nargilel) an. während er sich selbst einen Tschibbuk geben ließ. Da gerade eine gerichtliche Verhand¬ lung vorgenommen werden sollte, so ersuchte er mich, ihm zu erlauben, daß er dieselbe erledige, worauf er mir zu Diensten stehen oder, wie er sich artig ausdrückte, „sich meiner Anwesenheit erfreuen wolle." Darauf klatschte er in die Hände (was unter den Türken unser Klingeln vertritt), und zwei Diener traten ein. Der eine zog aus dem Gürtel ein kleines metallnes Schreibzeug, welches neben dem Tintenfaß zugleich das Federfutteral enthielt, und das er stehend seinem Gebieter hinhielt. Der andere schob einen sehr defect geklei¬ deten alten Bauer vor sich her, der ein durchlöchertes Feß in den Händen hielt, während von seinem von den Schläfen und dem Nacken bis zum Scheitel glatt rasirten Kopfe rückwärts ein dünner Zopf herabbaumelte. Ein Mädchen im Al^r von dreizehn oder vierzehn Jahren folgte. Sie trug weite Pump¬ hosen von blauer Leinwand, keine Schuhe und keine Strümpfe und ein enges, vorne offnes, gleichfalls blaues Jäckchen. Zwei prachtvolle braune Zöpfe hingen ihr fettgetränkt über die Schultern. Hände und Füße waren roth vom Einflüsse der wechselnden Witterung und vielleicht auch von schwerer Arbeit, aber ihr fein geschnittnes Gesicht war das einer Juno und ihr Wuchs der einer Hebe. Sie weinte. Die Verhandlung spielte sich sehr glatt ab. Ein gewisser Hussein Beg hatte dem Bauer den Tabak wegnehmen lassen, den derselbe geerntet und zu¬ bereitet hatte. Dazu war er vollkommen berechtigt; denn der Tabak war «uf seinem, Hussein Begs, Grund und Boden gewachsen. Vielleicht hätte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/227>, abgerufen am 25.08.2024.