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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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isolirt gelegenen Hause am Fluß in stiller Beschäftigung mit seinen Musen
bald aller Lebenspein aufs neue zu genesen. Allein gefehlt! Berichtet schon
ein Wiener Musikfreund aus dieser letzten Zeit: "Jeder Drotschenkutscher
kannte ihn und die Leute wichen achtungsvoll zurück, wenn er einherwandelte,
das Notizbuch oder einen Bleistift in der Hand, mit aufgerichtetem Kopfe,
oder auch gemüthlich mit dem Stecher Land und Leute beobachtend", so hatten
die beiden Akademien mit der Neunten Symphonie und der Missa solennis den
sonst tief Verborgenen, und sei es auch nur "in oWgis", erst recht vor die Augen
der Menge gebracht. Sogar die Wiener A. M. Z. gab kurz nach der ersten
Akademie ein Portrait "nach der Natur" von ihm bei. So begreift man, wenn
Schindler erzählt: "Auf dem dicht neben diesem Hause über den Fluß ge¬
legten Steg erlaubten sich die Passanten aus Neugierde oder Interesse stehen
zu bleiben und nach seinen Fenstern zu schauen." Und was konnte dem in
sein "höheres Leben" versunkenen Meister widriger sein als müssige Gaffer,
denen Größe und Berühmtheit eine Curiosität ist wie die Geschöpfe fremder
Zonen, -- zumal in diesem Moment, wo er den "Bürger", der ihm übri¬
gens schon aus dem Prozeß mit der Wittwe genügend bekannt schien, nun
auch nach dem Maß seiner Verehrung für das Hohe und Heilige seiner Kunst
völlig erkannt zu haben glaubte! Und abgesehen davon, daß solch stete Neu¬
versenkung in seine eigentliche Welt, ihn überhaupt am Dasein erhielt, das
um so mancher Ursachen willen ihm persönlich nur stets weniger Werth haben
konnte, hatte er ja, nachdem nun noch gar "nur Zeit und Geld verlohren bei
den "Akademien", von dieser seiner Geistesarbeit mit dem theuren "Sohn"
zu subsistiren". Dieser aber befand sich jetzt bereits im zweiten Semester auf
der Universität und hatte an den üblen Dingen, die das freie Jugendtreiben
mit sich bringt, bald genug Geschmack gefunden. Also wohl gewichtiger
Grund, die schöne Wohnung Ur. 43 in Penzing, im 1. Stock nach etwa
sechswöchentlicher Benutzung mit 180 si. C. M. für den ganzen Sommer zu
bezahlen und "mit Sack und Pack, Büchergeräthschaften. Broadwood-Flügel
und Hühnersteigen gegen Baden zu ziehen.

In diesem seinem eigentlichen Tusculum müssen wir ihn uns also auch in die¬
sem Sommer 1824 erst recht wieder durch Berg und Thal schweifend und Honig
sammelnd denken. Denn nur "rastlos bethätigt sich der Mann", und es lagen
obendrein ja dringendste "Verbindlichkeiten" vor. Für den Herbst aber wollte
man bestimmt zur Reise nach London frei sein. Also war auch jetzt vor
allem "Ruhe und Freiheit" nöthig, und so geht es jetzt zugleich ernstlich "n
den Verkauf der beiden "großen Werke", um endlich auch den Bruder "Pseudo"
vom Nacken zu haben, dem er in der Noth des Schreibens an den Werken
dieselben verpfändet hatte. Die Vorführung dieser geschichtlichen Correspondenz
aber leitet uns von selbst auch wieder zu jener eigentlichen Welt Beethoven's.


isolirt gelegenen Hause am Fluß in stiller Beschäftigung mit seinen Musen
bald aller Lebenspein aufs neue zu genesen. Allein gefehlt! Berichtet schon
ein Wiener Musikfreund aus dieser letzten Zeit: „Jeder Drotschenkutscher
kannte ihn und die Leute wichen achtungsvoll zurück, wenn er einherwandelte,
das Notizbuch oder einen Bleistift in der Hand, mit aufgerichtetem Kopfe,
oder auch gemüthlich mit dem Stecher Land und Leute beobachtend", so hatten
die beiden Akademien mit der Neunten Symphonie und der Missa solennis den
sonst tief Verborgenen, und sei es auch nur „in oWgis", erst recht vor die Augen
der Menge gebracht. Sogar die Wiener A. M. Z. gab kurz nach der ersten
Akademie ein Portrait „nach der Natur" von ihm bei. So begreift man, wenn
Schindler erzählt: „Auf dem dicht neben diesem Hause über den Fluß ge¬
legten Steg erlaubten sich die Passanten aus Neugierde oder Interesse stehen
zu bleiben und nach seinen Fenstern zu schauen." Und was konnte dem in
sein „höheres Leben" versunkenen Meister widriger sein als müssige Gaffer,
denen Größe und Berühmtheit eine Curiosität ist wie die Geschöpfe fremder
Zonen, — zumal in diesem Moment, wo er den „Bürger", der ihm übri¬
gens schon aus dem Prozeß mit der Wittwe genügend bekannt schien, nun
auch nach dem Maß seiner Verehrung für das Hohe und Heilige seiner Kunst
völlig erkannt zu haben glaubte! Und abgesehen davon, daß solch stete Neu¬
versenkung in seine eigentliche Welt, ihn überhaupt am Dasein erhielt, das
um so mancher Ursachen willen ihm persönlich nur stets weniger Werth haben
konnte, hatte er ja, nachdem nun noch gar „nur Zeit und Geld verlohren bei
den „Akademien", von dieser seiner Geistesarbeit mit dem theuren „Sohn"
zu subsistiren". Dieser aber befand sich jetzt bereits im zweiten Semester auf
der Universität und hatte an den üblen Dingen, die das freie Jugendtreiben
mit sich bringt, bald genug Geschmack gefunden. Also wohl gewichtiger
Grund, die schöne Wohnung Ur. 43 in Penzing, im 1. Stock nach etwa
sechswöchentlicher Benutzung mit 180 si. C. M. für den ganzen Sommer zu
bezahlen und „mit Sack und Pack, Büchergeräthschaften. Broadwood-Flügel
und Hühnersteigen gegen Baden zu ziehen.

In diesem seinem eigentlichen Tusculum müssen wir ihn uns also auch in die¬
sem Sommer 1824 erst recht wieder durch Berg und Thal schweifend und Honig
sammelnd denken. Denn nur „rastlos bethätigt sich der Mann", und es lagen
obendrein ja dringendste „Verbindlichkeiten" vor. Für den Herbst aber wollte
man bestimmt zur Reise nach London frei sein. Also war auch jetzt vor
allem „Ruhe und Freiheit" nöthig, und so geht es jetzt zugleich ernstlich «n
den Verkauf der beiden „großen Werke", um endlich auch den Bruder „Pseudo"
vom Nacken zu haben, dem er in der Noth des Schreibens an den Werken
dieselben verpfändet hatte. Die Vorführung dieser geschichtlichen Correspondenz
aber leitet uns von selbst auch wieder zu jener eigentlichen Welt Beethoven's.


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[0210] isolirt gelegenen Hause am Fluß in stiller Beschäftigung mit seinen Musen bald aller Lebenspein aufs neue zu genesen. Allein gefehlt! Berichtet schon ein Wiener Musikfreund aus dieser letzten Zeit: „Jeder Drotschenkutscher kannte ihn und die Leute wichen achtungsvoll zurück, wenn er einherwandelte, das Notizbuch oder einen Bleistift in der Hand, mit aufgerichtetem Kopfe, oder auch gemüthlich mit dem Stecher Land und Leute beobachtend", so hatten die beiden Akademien mit der Neunten Symphonie und der Missa solennis den sonst tief Verborgenen, und sei es auch nur „in oWgis", erst recht vor die Augen der Menge gebracht. Sogar die Wiener A. M. Z. gab kurz nach der ersten Akademie ein Portrait „nach der Natur" von ihm bei. So begreift man, wenn Schindler erzählt: „Auf dem dicht neben diesem Hause über den Fluß ge¬ legten Steg erlaubten sich die Passanten aus Neugierde oder Interesse stehen zu bleiben und nach seinen Fenstern zu schauen." Und was konnte dem in sein „höheres Leben" versunkenen Meister widriger sein als müssige Gaffer, denen Größe und Berühmtheit eine Curiosität ist wie die Geschöpfe fremder Zonen, — zumal in diesem Moment, wo er den „Bürger", der ihm übri¬ gens schon aus dem Prozeß mit der Wittwe genügend bekannt schien, nun auch nach dem Maß seiner Verehrung für das Hohe und Heilige seiner Kunst völlig erkannt zu haben glaubte! Und abgesehen davon, daß solch stete Neu¬ versenkung in seine eigentliche Welt, ihn überhaupt am Dasein erhielt, das um so mancher Ursachen willen ihm persönlich nur stets weniger Werth haben konnte, hatte er ja, nachdem nun noch gar „nur Zeit und Geld verlohren bei den „Akademien", von dieser seiner Geistesarbeit mit dem theuren „Sohn" zu subsistiren". Dieser aber befand sich jetzt bereits im zweiten Semester auf der Universität und hatte an den üblen Dingen, die das freie Jugendtreiben mit sich bringt, bald genug Geschmack gefunden. Also wohl gewichtiger Grund, die schöne Wohnung Ur. 43 in Penzing, im 1. Stock nach etwa sechswöchentlicher Benutzung mit 180 si. C. M. für den ganzen Sommer zu bezahlen und „mit Sack und Pack, Büchergeräthschaften. Broadwood-Flügel und Hühnersteigen gegen Baden zu ziehen. In diesem seinem eigentlichen Tusculum müssen wir ihn uns also auch in die¬ sem Sommer 1824 erst recht wieder durch Berg und Thal schweifend und Honig sammelnd denken. Denn nur „rastlos bethätigt sich der Mann", und es lagen obendrein ja dringendste „Verbindlichkeiten" vor. Für den Herbst aber wollte man bestimmt zur Reise nach London frei sein. Also war auch jetzt vor allem „Ruhe und Freiheit" nöthig, und so geht es jetzt zugleich ernstlich «n den Verkauf der beiden „großen Werke", um endlich auch den Bruder „Pseudo" vom Nacken zu haben, dem er in der Noth des Schreibens an den Werken dieselben verpfändet hatte. Die Vorführung dieser geschichtlichen Correspondenz aber leitet uns von selbst auch wieder zu jener eigentlichen Welt Beethoven's.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/210>, abgerufen am 22.07.2024.