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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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von dem ich erzählen will, war auf diesen überaus herrlichen Anhang so sehr
verpicht und versessen, daß er in der obersten Klasse seiner Elementarschule
das ganze Jahr hindurch, wie gesagt, kurz nach dem Kriege, diesen Anhang --
und nur diesen Anhang, worin der "Feind" so garstig wüthet, lesen und
wiederlesen ließ. Die Schüler mußten ihn sogar Seite für Seite wörtlich
auswendig lernen. Einer der begabtesten dieser Schüler, -- eben mein Ge¬
währsmann -- dem bei Weißenburg eine Kanonenkugel zwei Brüder er¬
schossen hatte und der in dem betr. Kapitel schon zum dritten Mal dem "Feind"
begegnet war, wirft plötzlich laut weinend das Buch aufs Pult und sagt:
..I las' nimmer!" ..Warum denn nicht?" fragt der erstaunte Schultyrann.
Der Knabe antwortet nicht, sondern weint bitterlich. Der Lehrer wird hef¬
tiger und droht sogar mit Kopsnüssen. Endlich bringt der Knabe es heraus:
"Weil -- weil da immer vom "Feind" die Rede ist; und ich kann doch nicht
meine eigenen Brüder stets so tituliren!" War das nicht triftig? Am andern
Tage mußte der arme Junge aber doch wieder das Stückchen vom "Feind"
deklamiren.

Einen guten Griff hat die reichsländische Schulverwaltung damit gethan,
daß sie trotz aller anfänglichen Seufzer und Lamento's, aller Thränen und
Jeremiaden die Schulbrüder und Schulschwestern sans ka^on ihrer Pflichten
enthob und deren Aemter, wenigstens in den größern Städten, weltlichen
Lehrern und Lehrerinnen übertrug. Zwar haben namentlich die letztern, meist
junge, alleinstehende Mädchen von drüben, sehr viel zu leiden von allerhand
boshaften Klatschereien und Gerüchten, die mit Vorliebe von einer Partei im El¬
saß colportirt werden, welcher diese Persönlichkeiten aus Prinzip "contre coeur"
sind und die dem unfehlbaren Grundsatze huldigt: Verläumdet nur nach
Noten, es bleibt doch schließlich etwas hängen. Wer sich die Sache aber ge¬
nauer betrachtet, muß sagen, daß an all diesen böswilligen Gerüchten und
Verläumdungen feiler Lästerzungen meist nicht ein wahres Wort ist und mir
gerne zustimmen, wenn ich meine: Respect vor diesen muthigen Jüngerinnen
der Wissenschaft, die trotz der Schwierigkeiten, die man ihnen absichtlich in
den Weg legt und trotz der Mühen und Nöthe, welche ihr wenig beneidens-
werther Beruf mit sich bringt, treu und wacker ausharren auf ihrem Posten
und ihrem Amte in jeder Beziehung gewachsen sind. Sie selbst aber braucht
Man wohl kaum noch an den alten Trost zu erinnern: "Die schlechtsten
Früchte sind es nicht, woran die Wespen nagen."

Das eine Axiom ist durch unser Jahrhundert und den aufgeklärten Geist
der Neuzeit festgestellt und bis zur Evidenz erwiesen: Die Schule gehört dem
Staate und seinen Dienern. Er sei der alleinige Gebieter auf diesem Felde!
Der Ordensgeistliche, der das Leben nicht kennt, oder es höchstens nur durch
die Perspective seiner vier Klostermauern zu betrachten gelernt, hat in


von dem ich erzählen will, war auf diesen überaus herrlichen Anhang so sehr
verpicht und versessen, daß er in der obersten Klasse seiner Elementarschule
das ganze Jahr hindurch, wie gesagt, kurz nach dem Kriege, diesen Anhang —
und nur diesen Anhang, worin der „Feind" so garstig wüthet, lesen und
wiederlesen ließ. Die Schüler mußten ihn sogar Seite für Seite wörtlich
auswendig lernen. Einer der begabtesten dieser Schüler, — eben mein Ge¬
währsmann — dem bei Weißenburg eine Kanonenkugel zwei Brüder er¬
schossen hatte und der in dem betr. Kapitel schon zum dritten Mal dem „Feind"
begegnet war, wirft plötzlich laut weinend das Buch aufs Pult und sagt:
..I las' nimmer!" ..Warum denn nicht?" fragt der erstaunte Schultyrann.
Der Knabe antwortet nicht, sondern weint bitterlich. Der Lehrer wird hef¬
tiger und droht sogar mit Kopsnüssen. Endlich bringt der Knabe es heraus:
»Weil — weil da immer vom „Feind" die Rede ist; und ich kann doch nicht
meine eigenen Brüder stets so tituliren!" War das nicht triftig? Am andern
Tage mußte der arme Junge aber doch wieder das Stückchen vom „Feind"
deklamiren.

Einen guten Griff hat die reichsländische Schulverwaltung damit gethan,
daß sie trotz aller anfänglichen Seufzer und Lamento's, aller Thränen und
Jeremiaden die Schulbrüder und Schulschwestern sans ka^on ihrer Pflichten
enthob und deren Aemter, wenigstens in den größern Städten, weltlichen
Lehrern und Lehrerinnen übertrug. Zwar haben namentlich die letztern, meist
junge, alleinstehende Mädchen von drüben, sehr viel zu leiden von allerhand
boshaften Klatschereien und Gerüchten, die mit Vorliebe von einer Partei im El¬
saß colportirt werden, welcher diese Persönlichkeiten aus Prinzip „contre coeur«
sind und die dem unfehlbaren Grundsatze huldigt: Verläumdet nur nach
Noten, es bleibt doch schließlich etwas hängen. Wer sich die Sache aber ge¬
nauer betrachtet, muß sagen, daß an all diesen böswilligen Gerüchten und
Verläumdungen feiler Lästerzungen meist nicht ein wahres Wort ist und mir
gerne zustimmen, wenn ich meine: Respect vor diesen muthigen Jüngerinnen
der Wissenschaft, die trotz der Schwierigkeiten, die man ihnen absichtlich in
den Weg legt und trotz der Mühen und Nöthe, welche ihr wenig beneidens-
werther Beruf mit sich bringt, treu und wacker ausharren auf ihrem Posten
und ihrem Amte in jeder Beziehung gewachsen sind. Sie selbst aber braucht
Man wohl kaum noch an den alten Trost zu erinnern: „Die schlechtsten
Früchte sind es nicht, woran die Wespen nagen."

Das eine Axiom ist durch unser Jahrhundert und den aufgeklärten Geist
der Neuzeit festgestellt und bis zur Evidenz erwiesen: Die Schule gehört dem
Staate und seinen Dienern. Er sei der alleinige Gebieter auf diesem Felde!
Der Ordensgeistliche, der das Leben nicht kennt, oder es höchstens nur durch
die Perspective seiner vier Klostermauern zu betrachten gelernt, hat in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/203>, abgerufen am 22.07.2024.