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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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den Parlamenten. Und wer wollte läugnen, daß es peinliche Empfin¬
dungen hervorruft, wenn die Landtage, von denen ein Theil katholisch, der
andere Theil israelitisch ist, der ferner viel Mitglieder zählt, die längst den
Zusammenhang mit der Kirche abgebrochen haben, immer kirchliche Gesetze
mittelbar oder unmittelbar revidiren. Aber dieser Zustand wird, wenn erst
die Verfassung der Kirche legalisirt ist, was in Preußen hoffentlich sehr bald
geschehen wird, aufhören und die Landtage werden dann nur selten noch Ge¬
legenheit haben, über innerkirchliche Fragen Entscheidung abzugeben. Es wird
ferner schmerzlich empfunden, daß die landeskirchliche Einheit auch Parteien
Recht und Schutz gewährt, welche von dem Vollgehalt des christlich - evangeli¬
schen Bekenntnisses werthvollste Bestandtheile ausscheiden und schwerwiegende Irr¬
thümer verbreiten. Diese Parteien würden bei freikirchlichem System zu isolirter
selbständiger Kirchenbildung getrieben werden und da ihnen dazu die positiven
religiösen Realitäten fehlen, würden sie als kirchliche Erscheinungen allmählich
verschwinden. Das ist unläugbar richtig. Aber auf der anderen Seite dürfen
wir nicht vergessen, daß die Freikirchen sehr leicht Stätten einer dumpfen
Engherzigkeit werden, welche keinen frischen Luftzug duldet und der wissen¬
schaftlichen Forschung engste Grenzen anweist. Eine solche Beschränkung kann
aber die deutsche evangelische Kirche am wenigsten ertragen, sie würde grade
das ihr eigenthümliche Charisma verlieren. Wir betrachten daher eine relative
Duldung rationalistischer religiös-theologischer Richtungen als ein geringeres
Uebel gegenüber dem Opfer der wissenschaftlichen Freiheit, welches die Frei¬
kirchen uns auferlegen würden. Die evangelische Kirche hat schon einmal den
Rationalismus überwunden, es wird ihr auch zum zweiten Male gelingen.
Im Kampfe um das Dasein bleiben nur die starken Organisationen bestehen,
die schwachen aber gehen unter, lehrt der Darvinismus. Nun der Nationalismus
ist keine starke, sondern eine schwache Organisation. Er vermag weder eine
- religiös-sittliche Gesammtanschauung hervor zu bringen, welche die Erkenntniß
und das Gemüth gleichmäßig befriedigt und die Bürgschaft einer unerschütter¬
lichen Gewißheit in sich trägt, noch ist er im Stande, auf dem Gebiete des
kirchlichen Handelns schöpferische Kräfte zu entwickeln. Er erweist sich hier
wie da als unfruchtbar und ohnmächtig. Ihm fehlt der vollbewußte, starke
innige Glaube, welchem allein der Sieg beschieden ist.


H. Jacoby.


den Parlamenten. Und wer wollte läugnen, daß es peinliche Empfin¬
dungen hervorruft, wenn die Landtage, von denen ein Theil katholisch, der
andere Theil israelitisch ist, der ferner viel Mitglieder zählt, die längst den
Zusammenhang mit der Kirche abgebrochen haben, immer kirchliche Gesetze
mittelbar oder unmittelbar revidiren. Aber dieser Zustand wird, wenn erst
die Verfassung der Kirche legalisirt ist, was in Preußen hoffentlich sehr bald
geschehen wird, aufhören und die Landtage werden dann nur selten noch Ge¬
legenheit haben, über innerkirchliche Fragen Entscheidung abzugeben. Es wird
ferner schmerzlich empfunden, daß die landeskirchliche Einheit auch Parteien
Recht und Schutz gewährt, welche von dem Vollgehalt des christlich - evangeli¬
schen Bekenntnisses werthvollste Bestandtheile ausscheiden und schwerwiegende Irr¬
thümer verbreiten. Diese Parteien würden bei freikirchlichem System zu isolirter
selbständiger Kirchenbildung getrieben werden und da ihnen dazu die positiven
religiösen Realitäten fehlen, würden sie als kirchliche Erscheinungen allmählich
verschwinden. Das ist unläugbar richtig. Aber auf der anderen Seite dürfen
wir nicht vergessen, daß die Freikirchen sehr leicht Stätten einer dumpfen
Engherzigkeit werden, welche keinen frischen Luftzug duldet und der wissen¬
schaftlichen Forschung engste Grenzen anweist. Eine solche Beschränkung kann
aber die deutsche evangelische Kirche am wenigsten ertragen, sie würde grade
das ihr eigenthümliche Charisma verlieren. Wir betrachten daher eine relative
Duldung rationalistischer religiös-theologischer Richtungen als ein geringeres
Uebel gegenüber dem Opfer der wissenschaftlichen Freiheit, welches die Frei¬
kirchen uns auferlegen würden. Die evangelische Kirche hat schon einmal den
Rationalismus überwunden, es wird ihr auch zum zweiten Male gelingen.
Im Kampfe um das Dasein bleiben nur die starken Organisationen bestehen,
die schwachen aber gehen unter, lehrt der Darvinismus. Nun der Nationalismus
ist keine starke, sondern eine schwache Organisation. Er vermag weder eine
- religiös-sittliche Gesammtanschauung hervor zu bringen, welche die Erkenntniß
und das Gemüth gleichmäßig befriedigt und die Bürgschaft einer unerschütter¬
lichen Gewißheit in sich trägt, noch ist er im Stande, auf dem Gebiete des
kirchlichen Handelns schöpferische Kräfte zu entwickeln. Er erweist sich hier
wie da als unfruchtbar und ohnmächtig. Ihm fehlt der vollbewußte, starke
innige Glaube, welchem allein der Sieg beschieden ist.


H. Jacoby.


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[0176] den Parlamenten. Und wer wollte läugnen, daß es peinliche Empfin¬ dungen hervorruft, wenn die Landtage, von denen ein Theil katholisch, der andere Theil israelitisch ist, der ferner viel Mitglieder zählt, die längst den Zusammenhang mit der Kirche abgebrochen haben, immer kirchliche Gesetze mittelbar oder unmittelbar revidiren. Aber dieser Zustand wird, wenn erst die Verfassung der Kirche legalisirt ist, was in Preußen hoffentlich sehr bald geschehen wird, aufhören und die Landtage werden dann nur selten noch Ge¬ legenheit haben, über innerkirchliche Fragen Entscheidung abzugeben. Es wird ferner schmerzlich empfunden, daß die landeskirchliche Einheit auch Parteien Recht und Schutz gewährt, welche von dem Vollgehalt des christlich - evangeli¬ schen Bekenntnisses werthvollste Bestandtheile ausscheiden und schwerwiegende Irr¬ thümer verbreiten. Diese Parteien würden bei freikirchlichem System zu isolirter selbständiger Kirchenbildung getrieben werden und da ihnen dazu die positiven religiösen Realitäten fehlen, würden sie als kirchliche Erscheinungen allmählich verschwinden. Das ist unläugbar richtig. Aber auf der anderen Seite dürfen wir nicht vergessen, daß die Freikirchen sehr leicht Stätten einer dumpfen Engherzigkeit werden, welche keinen frischen Luftzug duldet und der wissen¬ schaftlichen Forschung engste Grenzen anweist. Eine solche Beschränkung kann aber die deutsche evangelische Kirche am wenigsten ertragen, sie würde grade das ihr eigenthümliche Charisma verlieren. Wir betrachten daher eine relative Duldung rationalistischer religiös-theologischer Richtungen als ein geringeres Uebel gegenüber dem Opfer der wissenschaftlichen Freiheit, welches die Frei¬ kirchen uns auferlegen würden. Die evangelische Kirche hat schon einmal den Rationalismus überwunden, es wird ihr auch zum zweiten Male gelingen. Im Kampfe um das Dasein bleiben nur die starken Organisationen bestehen, die schwachen aber gehen unter, lehrt der Darvinismus. Nun der Nationalismus ist keine starke, sondern eine schwache Organisation. Er vermag weder eine - religiös-sittliche Gesammtanschauung hervor zu bringen, welche die Erkenntniß und das Gemüth gleichmäßig befriedigt und die Bürgschaft einer unerschütter¬ lichen Gewißheit in sich trägt, noch ist er im Stande, auf dem Gebiete des kirchlichen Handelns schöpferische Kräfte zu entwickeln. Er erweist sich hier wie da als unfruchtbar und ohnmächtig. Ihm fehlt der vollbewußte, starke innige Glaube, welchem allein der Sieg beschieden ist. H. Jacoby.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/176>, abgerufen am 22.07.2024.