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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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dann selten vor, aber sie hatte stets für Stellvertretung gesorgt. Auch seine
drei andern Frauen machten ihn zum Hahnrei und beherrschten ihn mit Hülfe
von Freigelassenen so vollständig als möglich. Die vierte aber, die stolze und
herrschsüchtige Agrippina, ließ ihn, als er ihr unbequem und gefährlich wer¬
den wollte, bei einem jener Gelage durch seinen Leibarzt Xenophon vergiften.
Goethe starb mit den Worten: "Mehr Licht!" Napoleon der Erste hauchte
seine Seele mit dem Ausruf: "I'ötL alö l'armvvl" aus. Claudius' letzter
Seufzer lautete, seines Lebens ebenso würdig: "Vae me, xuw, eonea-
ea-ol mel"

Nero, der Nachfolger des Vergifteten,'war ein Sohn des Cil. Domitius Aheno-
berbus und der soeben erwähnten Agrippina. Bei seiner Geburt waren von seinen
nähern Verwandten mütterlicherseits am Leben: der wahnsinnige Kaiser
Caligula, der Bruder, der blödsinnige Prinz Claudius, der Oheim seiner
Mutter, und zwei Schwestern derselben, Drustlla und Livilla, die mit ihrem
Bruder Caligula in Blutschande lebten. Verstorben waren seine Großmutter
Agrippina, die Aeltere, jenes hochfahrende Mannweib, deren wegen unzüch¬
tigen Lebens verbannte Schwester Julia und die obengenannten drei Brüder
Agrippa, Cajus und Lucius, deren Rohheit und Lüderlichkeit wir kennen.
Sein Vater Domitius Ahenoberbus entstammte einer Adelsfamilie, die ebenso
übermüthige und gewaltthätige Gesellen aufweist als die der Claudier. Sein Ur-
ältervater hatte, wie der Redner Crassus sich ausdrückte, "eine Stirn von Eisen
und ein Herz von Blei." Dessen Sohn zeichnete sich durch trotzige Sinnesart,
sein Enkel, der Großvater Nero's, durch Anmaßung und Verschwendung aus.
Der Vater Nero's endlich war in jeder Beziehung ein roher und wüster Mensch.
Er ließ einen Freigelassenen umbringen, weil er sich geweigert, eine über¬
mäßige Quantität Wein zu trinken, er tödtete durch absichtliches Ueberfahren
auf der Via Appia einen Knaben und schlug mitten auf dem Forum einer
unbedeutenden Meinungsverschiedenheit wegen ein Auge aus. Er betrog die
Bankiers um ihre Schuldforderungen an ihn, ja selbst die Wagenlenker um
die von ihnen gewonnenen Siegespreise. Wegen Majestätsbeleidigung, mehr¬
fachen Ehebruchs und Blutschande angeklagt, ward er unter Tiberius ins Ge¬
fängniß geworfen, aus dem ihn erst der Tod des Kaisers befreite. Seine
Ehe mit Agrippina war jahrelang kinderlos. Endlich, genau neun Monate
nach seiner Entlassung aus der Haft, wurde ihm sein einziger Sohn geboren,
welchem er für das Leben das Wort mitgab: "Du mußt ein Scheusal wer¬
den und das Verderben der Welt, wenn Du nach mir und Deiner Mutter
artest." Agrippina aber rief, als die Astrologen ihr später sagten, das Kind
werde einst den Thron besteigen, aber seine Mutter ermorden: "Mag er mich
tödten, wenn er nur Kaiser wird."

Wir wissen, daß Nero, als Agrippina nach dem Tode seines Vaters den


dann selten vor, aber sie hatte stets für Stellvertretung gesorgt. Auch seine
drei andern Frauen machten ihn zum Hahnrei und beherrschten ihn mit Hülfe
von Freigelassenen so vollständig als möglich. Die vierte aber, die stolze und
herrschsüchtige Agrippina, ließ ihn, als er ihr unbequem und gefährlich wer¬
den wollte, bei einem jener Gelage durch seinen Leibarzt Xenophon vergiften.
Goethe starb mit den Worten: „Mehr Licht!" Napoleon der Erste hauchte
seine Seele mit dem Ausruf: „I'ötL alö l'armvvl" aus. Claudius' letzter
Seufzer lautete, seines Lebens ebenso würdig: „Vae me, xuw, eonea-
ea-ol mel"

Nero, der Nachfolger des Vergifteten,'war ein Sohn des Cil. Domitius Aheno-
berbus und der soeben erwähnten Agrippina. Bei seiner Geburt waren von seinen
nähern Verwandten mütterlicherseits am Leben: der wahnsinnige Kaiser
Caligula, der Bruder, der blödsinnige Prinz Claudius, der Oheim seiner
Mutter, und zwei Schwestern derselben, Drustlla und Livilla, die mit ihrem
Bruder Caligula in Blutschande lebten. Verstorben waren seine Großmutter
Agrippina, die Aeltere, jenes hochfahrende Mannweib, deren wegen unzüch¬
tigen Lebens verbannte Schwester Julia und die obengenannten drei Brüder
Agrippa, Cajus und Lucius, deren Rohheit und Lüderlichkeit wir kennen.
Sein Vater Domitius Ahenoberbus entstammte einer Adelsfamilie, die ebenso
übermüthige und gewaltthätige Gesellen aufweist als die der Claudier. Sein Ur-
ältervater hatte, wie der Redner Crassus sich ausdrückte, „eine Stirn von Eisen
und ein Herz von Blei." Dessen Sohn zeichnete sich durch trotzige Sinnesart,
sein Enkel, der Großvater Nero's, durch Anmaßung und Verschwendung aus.
Der Vater Nero's endlich war in jeder Beziehung ein roher und wüster Mensch.
Er ließ einen Freigelassenen umbringen, weil er sich geweigert, eine über¬
mäßige Quantität Wein zu trinken, er tödtete durch absichtliches Ueberfahren
auf der Via Appia einen Knaben und schlug mitten auf dem Forum einer
unbedeutenden Meinungsverschiedenheit wegen ein Auge aus. Er betrog die
Bankiers um ihre Schuldforderungen an ihn, ja selbst die Wagenlenker um
die von ihnen gewonnenen Siegespreise. Wegen Majestätsbeleidigung, mehr¬
fachen Ehebruchs und Blutschande angeklagt, ward er unter Tiberius ins Ge¬
fängniß geworfen, aus dem ihn erst der Tod des Kaisers befreite. Seine
Ehe mit Agrippina war jahrelang kinderlos. Endlich, genau neun Monate
nach seiner Entlassung aus der Haft, wurde ihm sein einziger Sohn geboren,
welchem er für das Leben das Wort mitgab: „Du mußt ein Scheusal wer¬
den und das Verderben der Welt, wenn Du nach mir und Deiner Mutter
artest." Agrippina aber rief, als die Astrologen ihr später sagten, das Kind
werde einst den Thron besteigen, aber seine Mutter ermorden: „Mag er mich
tödten, wenn er nur Kaiser wird."

Wir wissen, daß Nero, als Agrippina nach dem Tode seines Vaters den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/142>, abgerufen am 23.07.2024.