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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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zuwecken aus seinem langen und schweren Schlafe. Unsere Arche schwankt
mitten auf den sturmbewegten Wogen: doch ohne Furcht! Der Sturm wird
unsre glorreiche Flagge nur noch mehr entfalten; er wird sie ihrem ganzen
Umfange nach ausbreiten, damit man um so deutlicher den Wahlspruch lese,
den ihre majestätischen Falten bergen: der Herr Jesus Christus ist der einzige
König, das einzige Oberhaupt unserer Kirche. Wir haben diese Flagge an
unserm Maste befestigt; wir werden sie auch aufrecht erhalten mitten in der
furchtbaren Nacht des Orkans wie beim Glanz der Sonne."")

Dieser Gegensatz kirchenpolitischer Theorien entspricht dem Gegensatz des
Staatsbegriffs, wie er sich auf der einen Seite im Katholizismus, auf der
andern Seite im Protestantismus gestaltet hat. Der freikirchliche und katho¬
lische, der staatskirchliche und protestantische Staatsbegriff sind einander ver¬
wandt. Die Freikirche und der Katholizismus gestehen dem Staat ein sehr
geringes Maß sittlichen Gehaltes zu. Die katholische Theorie des Mittel¬
alters sieht im Staat eine Institution, die an sich nur den natürlichen und
vergänglichen Interessen des irdischen Lebens gewidmet ist und einer weihen¬
den sittlichen Idee entbehrt. Diese empfängt er nur mittelst der Kirche, in
welcher er die begeisterte Seele seines ohne sie sittlich todten Körpers zu
erkennen hat. "Um wieviel werthvoller die Seele als der Körper, um soviel
werthvoller ist das Priesterthum als das Königthum, schreibt Innocenz III.**)

Auch die Freikirche erkennt dem Staate nur einen geringen sittlichen
Werth zu. Nach Vince hat die Gesellschaftsmoral nur drei Güter zu pflegen,
die Sicherheit, das Eigenthum und die Schamhaftigkeit, und er erklärt daher:
"die Regierung beruht nicht auf moralischen Ideen; sie ist nur Repräsentant,
oder, wenn ich wagen darf zu sagen, der Agent des Wechselgeschäfts, das
man zur Erhaltung und gegenseitigen Vertheidigung errichtet hat."***)

Der Protestantismus, welcher die natürlichen Ordnungen des menschlichen
Lebens in ihr göttliches Recht eingesetzt und die ihnen von Gott verliehene
Herrlichkeit wieder zur Geltung gebracht hat, mußte auch für die Würde des
Staats, oder, um mit den Reformatoren zu sprechen, der Obrigkeit eintreten.
"Weltliche Herrschaft, sagt Luther, ist ein Mitglied worden des christlichen
Körpers. Und wiewohl sie ein leibliches Werk hat, doch geistlichen Standes
ist; darum ihr Werk soll frei ungehindert gehen in allen Gliedmaßen des
ganzen Körpers, strafen und treiben, wo es die Schuld verdienet oder Noth
fordert, unangesehen Pabst, Bischöfe, Priester, sie dräuen oder bannen, wie
sie wollen."'I')






*) Merle d'Aubigne, Die schottische Kirche, übersetzt v. Fiebig. Leipzig 1851. S, 351.
337 -- 8.
") Richter-Dove, Kirchenrecht. 7. Auflage 1874. S. 112.
a. a. O. S. 3b. 138.
f) An den christlichen Adel deutscher Nation. Erl. Ausg. Bd. XXI, S. 285.

zuwecken aus seinem langen und schweren Schlafe. Unsere Arche schwankt
mitten auf den sturmbewegten Wogen: doch ohne Furcht! Der Sturm wird
unsre glorreiche Flagge nur noch mehr entfalten; er wird sie ihrem ganzen
Umfange nach ausbreiten, damit man um so deutlicher den Wahlspruch lese,
den ihre majestätischen Falten bergen: der Herr Jesus Christus ist der einzige
König, das einzige Oberhaupt unserer Kirche. Wir haben diese Flagge an
unserm Maste befestigt; wir werden sie auch aufrecht erhalten mitten in der
furchtbaren Nacht des Orkans wie beim Glanz der Sonne."")

Dieser Gegensatz kirchenpolitischer Theorien entspricht dem Gegensatz des
Staatsbegriffs, wie er sich auf der einen Seite im Katholizismus, auf der
andern Seite im Protestantismus gestaltet hat. Der freikirchliche und katho¬
lische, der staatskirchliche und protestantische Staatsbegriff sind einander ver¬
wandt. Die Freikirche und der Katholizismus gestehen dem Staat ein sehr
geringes Maß sittlichen Gehaltes zu. Die katholische Theorie des Mittel¬
alters sieht im Staat eine Institution, die an sich nur den natürlichen und
vergänglichen Interessen des irdischen Lebens gewidmet ist und einer weihen¬
den sittlichen Idee entbehrt. Diese empfängt er nur mittelst der Kirche, in
welcher er die begeisterte Seele seines ohne sie sittlich todten Körpers zu
erkennen hat. „Um wieviel werthvoller die Seele als der Körper, um soviel
werthvoller ist das Priesterthum als das Königthum, schreibt Innocenz III.**)

Auch die Freikirche erkennt dem Staate nur einen geringen sittlichen
Werth zu. Nach Vince hat die Gesellschaftsmoral nur drei Güter zu pflegen,
die Sicherheit, das Eigenthum und die Schamhaftigkeit, und er erklärt daher:
„die Regierung beruht nicht auf moralischen Ideen; sie ist nur Repräsentant,
oder, wenn ich wagen darf zu sagen, der Agent des Wechselgeschäfts, das
man zur Erhaltung und gegenseitigen Vertheidigung errichtet hat."***)

Der Protestantismus, welcher die natürlichen Ordnungen des menschlichen
Lebens in ihr göttliches Recht eingesetzt und die ihnen von Gott verliehene
Herrlichkeit wieder zur Geltung gebracht hat, mußte auch für die Würde des
Staats, oder, um mit den Reformatoren zu sprechen, der Obrigkeit eintreten.
„Weltliche Herrschaft, sagt Luther, ist ein Mitglied worden des christlichen
Körpers. Und wiewohl sie ein leibliches Werk hat, doch geistlichen Standes
ist; darum ihr Werk soll frei ungehindert gehen in allen Gliedmaßen des
ganzen Körpers, strafen und treiben, wo es die Schuld verdienet oder Noth
fordert, unangesehen Pabst, Bischöfe, Priester, sie dräuen oder bannen, wie
sie wollen."'I')






*) Merle d'Aubigne, Die schottische Kirche, übersetzt v. Fiebig. Leipzig 1851. S, 351.
337 — 8.
") Richter-Dove, Kirchenrecht. 7. Auflage 1874. S. 112.
a. a. O. S. 3b. 138.
f) An den christlichen Adel deutscher Nation. Erl. Ausg. Bd. XXI, S. 285.
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[0128] zuwecken aus seinem langen und schweren Schlafe. Unsere Arche schwankt mitten auf den sturmbewegten Wogen: doch ohne Furcht! Der Sturm wird unsre glorreiche Flagge nur noch mehr entfalten; er wird sie ihrem ganzen Umfange nach ausbreiten, damit man um so deutlicher den Wahlspruch lese, den ihre majestätischen Falten bergen: der Herr Jesus Christus ist der einzige König, das einzige Oberhaupt unserer Kirche. Wir haben diese Flagge an unserm Maste befestigt; wir werden sie auch aufrecht erhalten mitten in der furchtbaren Nacht des Orkans wie beim Glanz der Sonne."") Dieser Gegensatz kirchenpolitischer Theorien entspricht dem Gegensatz des Staatsbegriffs, wie er sich auf der einen Seite im Katholizismus, auf der andern Seite im Protestantismus gestaltet hat. Der freikirchliche und katho¬ lische, der staatskirchliche und protestantische Staatsbegriff sind einander ver¬ wandt. Die Freikirche und der Katholizismus gestehen dem Staat ein sehr geringes Maß sittlichen Gehaltes zu. Die katholische Theorie des Mittel¬ alters sieht im Staat eine Institution, die an sich nur den natürlichen und vergänglichen Interessen des irdischen Lebens gewidmet ist und einer weihen¬ den sittlichen Idee entbehrt. Diese empfängt er nur mittelst der Kirche, in welcher er die begeisterte Seele seines ohne sie sittlich todten Körpers zu erkennen hat. „Um wieviel werthvoller die Seele als der Körper, um soviel werthvoller ist das Priesterthum als das Königthum, schreibt Innocenz III.**) Auch die Freikirche erkennt dem Staate nur einen geringen sittlichen Werth zu. Nach Vince hat die Gesellschaftsmoral nur drei Güter zu pflegen, die Sicherheit, das Eigenthum und die Schamhaftigkeit, und er erklärt daher: „die Regierung beruht nicht auf moralischen Ideen; sie ist nur Repräsentant, oder, wenn ich wagen darf zu sagen, der Agent des Wechselgeschäfts, das man zur Erhaltung und gegenseitigen Vertheidigung errichtet hat."***) Der Protestantismus, welcher die natürlichen Ordnungen des menschlichen Lebens in ihr göttliches Recht eingesetzt und die ihnen von Gott verliehene Herrlichkeit wieder zur Geltung gebracht hat, mußte auch für die Würde des Staats, oder, um mit den Reformatoren zu sprechen, der Obrigkeit eintreten. „Weltliche Herrschaft, sagt Luther, ist ein Mitglied worden des christlichen Körpers. Und wiewohl sie ein leibliches Werk hat, doch geistlichen Standes ist; darum ihr Werk soll frei ungehindert gehen in allen Gliedmaßen des ganzen Körpers, strafen und treiben, wo es die Schuld verdienet oder Noth fordert, unangesehen Pabst, Bischöfe, Priester, sie dräuen oder bannen, wie sie wollen."'I') *) Merle d'Aubigne, Die schottische Kirche, übersetzt v. Fiebig. Leipzig 1851. S, 351. 337 — 8. ") Richter-Dove, Kirchenrecht. 7. Auflage 1874. S. 112. a. a. O. S. 3b. 138. f) An den christlichen Adel deutscher Nation. Erl. Ausg. Bd. XXI, S. 285.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/128>, abgerufen am 25.08.2024.