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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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den Geist des Widerstandes und der Feindseligkeit gegen den Klerus ein¬
flößen, damit sie ihn ihren Zöglingen mittheilten, so würde man in der
Jugend unausbleiblich das religiöse Gefühl vernichten und ein atheistisches
Volk entstehen lassen, und das kann niemand wollen, der es mit dem Staate
gut meint. In einem großen Theile der protestantischen Länder, in Amerika,
in Holland, in manchen Gegenden des deutschen Reichs hat man confessions-
lose Schulen, die aber immerhin von christlichem Geiste durchdrungen sind.
In einem katholischen Lande kann die confessionslose Schule nur in stetem
Kampfe mit der auf ihre Vernichtung bedachten Geistlichkeit leben, sie wird
also unausbleiblich antireligiös sein.

Für die gewaltigen Fragen, welche die Arbeiter und die Kapitalisten
entzweien, hat das Christenthum Lösungen zur Hand, denn einestheils
lehrt es die Bruderliebe, anderntheils die Entsagung, und so führt es beide
Theile zur Herabstimmung ihrer Ansprüche und damit zur Verständigung,
zur Herrschaft der Gerechtigkeit. Zwischen wahrhaft christlichen Arbeitern
und Arbeitgebern könnte ein dauernder Zwiespalt, eine ernste Schwierigkeit
sich nicht erheben; denn bei ihnen würde immer die Billigkeit über die Ver-
theilung des Gewinnes entscheiden. Wir Katholiken fühlen nur zu sehr die
furchtbare Kluft, welche die Abschwächung der religiösen Gefühle hat entstehen
lassen, die das nothwendige Ergebniß des Kampfes gegen die einzige uns
bekannte Form des Cultus war."

Der Versasser meint dann, daß in protestantischen Ländern die Geist¬
lichen bei allen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft wohl angesehen seien,
und daß durch ihre Einwirkung die Conflicte gemildert würden. Wir wissen
aber nur zu wohl, daß dieß gegenwärtig nur zum Theil wahr ist, indem es
nur von der Mehrzahl der ländlichen Arbeiter und einem verhältnißmäßig
geringen Theile der in den Fabriken beschäftigten gilt. Doch muß immerhin
zugegeben werden, daß in mehreren protestantischen Ländern, zum Beispiel
in England, die socialistischen Bestrebungen nicht den gehässigen und anarchischen
Geist zeigen, den sie in den katholischen fast allenthalben bekunden.

"In seinem schönen Buche über die französische Revolution zeigt Quinet
deulich und klar, daß, wenn jene gewaltige Anstrengung zur Befreiung mi߬
lungen ist, der Grund davon in religiösen Hindernissen liegt, und er zieht
daraus den Schluß, daß man die bürgerliche Gesellschaft und die politische
Verfassung eines Landes nicht reformiren könne, ohne zugleich den Cultus
zu reformiren. Der Grund hiervon ist, daß die bürgerliche und politische
Gesellschaft die Formen der religiösen Gesellschaft anzunehmen strebt. Der
Priester hat eine solche Macht über die Seelen, daß er ihnen sein Ideal
aufnöthigt. Wenigstens ist das so lange der Fall, als man nicht das


den Geist des Widerstandes und der Feindseligkeit gegen den Klerus ein¬
flößen, damit sie ihn ihren Zöglingen mittheilten, so würde man in der
Jugend unausbleiblich das religiöse Gefühl vernichten und ein atheistisches
Volk entstehen lassen, und das kann niemand wollen, der es mit dem Staate
gut meint. In einem großen Theile der protestantischen Länder, in Amerika,
in Holland, in manchen Gegenden des deutschen Reichs hat man confessions-
lose Schulen, die aber immerhin von christlichem Geiste durchdrungen sind.
In einem katholischen Lande kann die confessionslose Schule nur in stetem
Kampfe mit der auf ihre Vernichtung bedachten Geistlichkeit leben, sie wird
also unausbleiblich antireligiös sein.

Für die gewaltigen Fragen, welche die Arbeiter und die Kapitalisten
entzweien, hat das Christenthum Lösungen zur Hand, denn einestheils
lehrt es die Bruderliebe, anderntheils die Entsagung, und so führt es beide
Theile zur Herabstimmung ihrer Ansprüche und damit zur Verständigung,
zur Herrschaft der Gerechtigkeit. Zwischen wahrhaft christlichen Arbeitern
und Arbeitgebern könnte ein dauernder Zwiespalt, eine ernste Schwierigkeit
sich nicht erheben; denn bei ihnen würde immer die Billigkeit über die Ver-
theilung des Gewinnes entscheiden. Wir Katholiken fühlen nur zu sehr die
furchtbare Kluft, welche die Abschwächung der religiösen Gefühle hat entstehen
lassen, die das nothwendige Ergebniß des Kampfes gegen die einzige uns
bekannte Form des Cultus war."

Der Versasser meint dann, daß in protestantischen Ländern die Geist¬
lichen bei allen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft wohl angesehen seien,
und daß durch ihre Einwirkung die Conflicte gemildert würden. Wir wissen
aber nur zu wohl, daß dieß gegenwärtig nur zum Theil wahr ist, indem es
nur von der Mehrzahl der ländlichen Arbeiter und einem verhältnißmäßig
geringen Theile der in den Fabriken beschäftigten gilt. Doch muß immerhin
zugegeben werden, daß in mehreren protestantischen Ländern, zum Beispiel
in England, die socialistischen Bestrebungen nicht den gehässigen und anarchischen
Geist zeigen, den sie in den katholischen fast allenthalben bekunden.

„In seinem schönen Buche über die französische Revolution zeigt Quinet
deulich und klar, daß, wenn jene gewaltige Anstrengung zur Befreiung mi߬
lungen ist, der Grund davon in religiösen Hindernissen liegt, und er zieht
daraus den Schluß, daß man die bürgerliche Gesellschaft und die politische
Verfassung eines Landes nicht reformiren könne, ohne zugleich den Cultus
zu reformiren. Der Grund hiervon ist, daß die bürgerliche und politische
Gesellschaft die Formen der religiösen Gesellschaft anzunehmen strebt. Der
Priester hat eine solche Macht über die Seelen, daß er ihnen sein Ideal
aufnöthigt. Wenigstens ist das so lange der Fall, als man nicht das


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[0102] den Geist des Widerstandes und der Feindseligkeit gegen den Klerus ein¬ flößen, damit sie ihn ihren Zöglingen mittheilten, so würde man in der Jugend unausbleiblich das religiöse Gefühl vernichten und ein atheistisches Volk entstehen lassen, und das kann niemand wollen, der es mit dem Staate gut meint. In einem großen Theile der protestantischen Länder, in Amerika, in Holland, in manchen Gegenden des deutschen Reichs hat man confessions- lose Schulen, die aber immerhin von christlichem Geiste durchdrungen sind. In einem katholischen Lande kann die confessionslose Schule nur in stetem Kampfe mit der auf ihre Vernichtung bedachten Geistlichkeit leben, sie wird also unausbleiblich antireligiös sein. Für die gewaltigen Fragen, welche die Arbeiter und die Kapitalisten entzweien, hat das Christenthum Lösungen zur Hand, denn einestheils lehrt es die Bruderliebe, anderntheils die Entsagung, und so führt es beide Theile zur Herabstimmung ihrer Ansprüche und damit zur Verständigung, zur Herrschaft der Gerechtigkeit. Zwischen wahrhaft christlichen Arbeitern und Arbeitgebern könnte ein dauernder Zwiespalt, eine ernste Schwierigkeit sich nicht erheben; denn bei ihnen würde immer die Billigkeit über die Ver- theilung des Gewinnes entscheiden. Wir Katholiken fühlen nur zu sehr die furchtbare Kluft, welche die Abschwächung der religiösen Gefühle hat entstehen lassen, die das nothwendige Ergebniß des Kampfes gegen die einzige uns bekannte Form des Cultus war." Der Versasser meint dann, daß in protestantischen Ländern die Geist¬ lichen bei allen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft wohl angesehen seien, und daß durch ihre Einwirkung die Conflicte gemildert würden. Wir wissen aber nur zu wohl, daß dieß gegenwärtig nur zum Theil wahr ist, indem es nur von der Mehrzahl der ländlichen Arbeiter und einem verhältnißmäßig geringen Theile der in den Fabriken beschäftigten gilt. Doch muß immerhin zugegeben werden, daß in mehreren protestantischen Ländern, zum Beispiel in England, die socialistischen Bestrebungen nicht den gehässigen und anarchischen Geist zeigen, den sie in den katholischen fast allenthalben bekunden. „In seinem schönen Buche über die französische Revolution zeigt Quinet deulich und klar, daß, wenn jene gewaltige Anstrengung zur Befreiung mi߬ lungen ist, der Grund davon in religiösen Hindernissen liegt, und er zieht daraus den Schluß, daß man die bürgerliche Gesellschaft und die politische Verfassung eines Landes nicht reformiren könne, ohne zugleich den Cultus zu reformiren. Der Grund hiervon ist, daß die bürgerliche und politische Gesellschaft die Formen der religiösen Gesellschaft anzunehmen strebt. Der Priester hat eine solche Macht über die Seelen, daß er ihnen sein Ideal aufnöthigt. Wenigstens ist das so lange der Fall, als man nicht das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/102>, abgerufen am 22.07.2024.