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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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suchen und wähnen, daß Rom ihnen denselben darbiete. Dagegen sind Ueber¬
tritte vom Katholicismus zum Protestantismus selten, weil der gebildete
Katholik mit wenigen Ausnahmen jeder Art von Religion feindlich oder gleich¬
gültig gegenüber steht. Diese Theilnahmlosigkeit kommt der Kirche noch zu
statten, denn sie verhindert, daß man sich ihrer Autorität ganz entzieht, und
immer gelangt sie bei ihr schließlich dahin, sich der Kinder ihrer Gegner
wieder zu bemächtigen.

Der zweite Beweggrund, der die katholischen Völker zum Unglauben führt,
liegt darin, daß die Kirche sich den modernen Ideen und Freiheiten feind¬
selig zeigt, und daß infolge dessen alle diejenigen, die denselben anhängen, oft
gegen ihren Willen, dahin gelangen, die Kirche zu verabscheuen und zu be¬
kämpfen. Der Aufschrei des Hasses Voltaire's: "Lerasong 1'iiMme" wird
nothwendig und überall eingestandnermaßen oder nicht zum Feldruf des Libe¬
ralismus. Ohne Unterlaß greift der liberale Katholik die Priester und die
Mönche an, weil sie die bürgerliche Gesellschaft dem Papste und seinen Sa¬
telliten und Trabanten, den Bischöfen unterwerfen wollen. Er kann keine
Achtung vor dem Dogma haben, mittelst dessen man ihm die Freiheit rau¬
ben will."

Nachdem der Verfasser die Thatsache, daß die protestantischen Völker den
katholischen überlegen sind, und die Ursachen davon dargethan hat, zeigt er
die Folgen auf. "Die erste ist, daß man erfolglos bestrebt gewesen ist, die
Länder von der Herrschaft Roms zu befreien, welche man im Namen einer
einfachen Negation unverständigen Zweifels gegen die Kirche aufruft. Niemals
hat eine Nation zu diesem Zwecke heftigere Anstrengungen gemacht als Frank¬
reich. Es hat alle Mittel mit unvergleichlicher Kraft und Gewalt hierzu an¬
gewendet: philosophische Gründe und den Scherz des Romans, die Satire
der Komödie und die Beredsamkeit der Rednerbühne, die Fackel der Brand¬
stifter, Mine der Zerstörer und das Beil des Scharfrichters. Alles vergeblich,
In diesem Augenblicke herrschen die Ultramontanen zu Versailles, sie spielen
den Unterricht den Jesuiten in die Hände, sie nehmen die Schmeicheleien der
Minister Mac Mahon's entgegen, sie bereiten die Rückkehr eines der römischen
Kirche völlig ergebenen Königthums vor. Ihr Einfluß wächst mit reißender
Schnelligkeit und scheint, wie in Belgien, unwiderstehlich. Das kommt davon,
daß man in Sachen der Religion nur das aufgiebt, was man ersetzen kann.
Das Freidenkerthum wird die Herrschaft der Kirche nicht brechen, es wird sie
vielmehr befestigen; denn es entspricht den Herzensbedürfnissen der niedern
Klasse und namentlich denen der Frauen nicht.

Der Versuch, den Katholicismus zu zerstören, ohne ihn durch etwas An¬
deres zu ersetzen, erreicht also seinen Zweck nicht, ruft aber den revolutionären
Geist hervor. Man bemerke, wie dieser Geist sich unter den katholischen Vol-


suchen und wähnen, daß Rom ihnen denselben darbiete. Dagegen sind Ueber¬
tritte vom Katholicismus zum Protestantismus selten, weil der gebildete
Katholik mit wenigen Ausnahmen jeder Art von Religion feindlich oder gleich¬
gültig gegenüber steht. Diese Theilnahmlosigkeit kommt der Kirche noch zu
statten, denn sie verhindert, daß man sich ihrer Autorität ganz entzieht, und
immer gelangt sie bei ihr schließlich dahin, sich der Kinder ihrer Gegner
wieder zu bemächtigen.

Der zweite Beweggrund, der die katholischen Völker zum Unglauben führt,
liegt darin, daß die Kirche sich den modernen Ideen und Freiheiten feind¬
selig zeigt, und daß infolge dessen alle diejenigen, die denselben anhängen, oft
gegen ihren Willen, dahin gelangen, die Kirche zu verabscheuen und zu be¬
kämpfen. Der Aufschrei des Hasses Voltaire's: „Lerasong 1'iiMme« wird
nothwendig und überall eingestandnermaßen oder nicht zum Feldruf des Libe¬
ralismus. Ohne Unterlaß greift der liberale Katholik die Priester und die
Mönche an, weil sie die bürgerliche Gesellschaft dem Papste und seinen Sa¬
telliten und Trabanten, den Bischöfen unterwerfen wollen. Er kann keine
Achtung vor dem Dogma haben, mittelst dessen man ihm die Freiheit rau¬
ben will."

Nachdem der Verfasser die Thatsache, daß die protestantischen Völker den
katholischen überlegen sind, und die Ursachen davon dargethan hat, zeigt er
die Folgen auf. „Die erste ist, daß man erfolglos bestrebt gewesen ist, die
Länder von der Herrschaft Roms zu befreien, welche man im Namen einer
einfachen Negation unverständigen Zweifels gegen die Kirche aufruft. Niemals
hat eine Nation zu diesem Zwecke heftigere Anstrengungen gemacht als Frank¬
reich. Es hat alle Mittel mit unvergleichlicher Kraft und Gewalt hierzu an¬
gewendet: philosophische Gründe und den Scherz des Romans, die Satire
der Komödie und die Beredsamkeit der Rednerbühne, die Fackel der Brand¬
stifter, Mine der Zerstörer und das Beil des Scharfrichters. Alles vergeblich,
In diesem Augenblicke herrschen die Ultramontanen zu Versailles, sie spielen
den Unterricht den Jesuiten in die Hände, sie nehmen die Schmeicheleien der
Minister Mac Mahon's entgegen, sie bereiten die Rückkehr eines der römischen
Kirche völlig ergebenen Königthums vor. Ihr Einfluß wächst mit reißender
Schnelligkeit und scheint, wie in Belgien, unwiderstehlich. Das kommt davon,
daß man in Sachen der Religion nur das aufgiebt, was man ersetzen kann.
Das Freidenkerthum wird die Herrschaft der Kirche nicht brechen, es wird sie
vielmehr befestigen; denn es entspricht den Herzensbedürfnissen der niedern
Klasse und namentlich denen der Frauen nicht.

Der Versuch, den Katholicismus zu zerstören, ohne ihn durch etwas An¬
deres zu ersetzen, erreicht also seinen Zweck nicht, ruft aber den revolutionären
Geist hervor. Man bemerke, wie dieser Geist sich unter den katholischen Vol-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/100>, abgerufen am 22.07.2024.