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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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tigkeit des Grafen Julianus in Nordafrika*), dessen Tochter Noderich entehrt
haben sollte. Auch hieß es nun, Roderich habe seine Krone einem Aufstande
gegen Witiza verdankt, ja er habe den Borgänger selbst ermordet.

Von allen derartigen späteren Zusätzen würde eine historische Darstellung
abzusehen haben: es ist des Dichters Vorrecht, soweit sie ihm passen, sie zu
verwerthen, umzugestalten und noch weiter zu entwickeln.

Dies äußere Gerüst der Thatsachen war dem Dichter gegeben. Daß sie
nicht ohne weiteres den Stoff zu einem Drama zu liefern vermögen, liegt auf
der Hand. Es war die Aufgabe des Dichters, den Untergang Roderich's und
der Westgothen zu motiviren und damit erst einen wirklich dramatischen In¬
halt dem äußeren Stoff zu verleihen. Es stand ihm frei, durch Erfindung
von Details und Zusätzen diesen Inhalt frei zu schaffen. Möglich war es,
den Untergang Roderich's mit jener romantischen Beziehung zwischen ihm und
der Tochter des Julianus in Verbindung zu bringen: ein interessantes und
spannendes Liebesdrama hätte sich daraus machen lassen! Aber dahin ging
nicht die Absicht Dahn's. Obgleich er auch dies Motiv verwerthet, ging er
darauf aus, einen viel größeren Gedankeninhalt für sein Werk zu gewinnen.
Und nicht sowohl die einzelnen Thatsachen der Ueberlieferung, als die ihm
aus seinen historischen Studien erwachsene Einsicht in den Zusammenhang und
die Verkettung der Ereignisse bot ihm die dem Drama zu Grunde liegende
Idee dar.

Ein Ergebniß der historischen Forschung über die westgothische Geschichte
ist das folgende. Das Gothische Reich ist vollständig von der Kirche beherrscht
gewesen: Königthum und Aristokratie waren dienende Faktoren gegenüber der
übermächtigen Stellung des Clerus und der Kirche. Und dieses Ueberwuchern
der kirchlichen Macht im staatlichen Leben der Nation hatte die Lebenskraft
des Staates vernichtet und untergraben. Der Untergang des Gothenreiches
war nach übereinstimmendem Urtheil der Historiker die Folge der Priesterherr¬
schaft über die Gothen: die Schaaren Taret's brachen nur die Frucht, die
schon überreif war; der Einfall der Mauren war nur der äußere Anstoß, der
den morschen Bau umwarf.

Indem der Gelehrte Dahn dem Dichter Dahn diesen Gedanken, -- wie
gesagt, das unbestrittene Ergebniß der bisherigen Studien -- übermittelte, war
die leitende Idee für das historische Trauerspiel gewonnen, eine Idee, welche
in der Empfindung unserer Zeitgenossen dem lebhaftesten Echo zu begegnen
gewiß war.

Wie König Roderich historisch sich zu der kirchlichen Uebermacht verhalten,
wie weit vielleicht sein Untergang mit der Stellung zur Kirche in Beziehung



") Nach neueren Untersuchungen ist übrigens dieser Julianus ein Statthalter des byzan¬
tinischen Kaisers, nicht ein Gothe gewesen.

tigkeit des Grafen Julianus in Nordafrika*), dessen Tochter Noderich entehrt
haben sollte. Auch hieß es nun, Roderich habe seine Krone einem Aufstande
gegen Witiza verdankt, ja er habe den Borgänger selbst ermordet.

Von allen derartigen späteren Zusätzen würde eine historische Darstellung
abzusehen haben: es ist des Dichters Vorrecht, soweit sie ihm passen, sie zu
verwerthen, umzugestalten und noch weiter zu entwickeln.

Dies äußere Gerüst der Thatsachen war dem Dichter gegeben. Daß sie
nicht ohne weiteres den Stoff zu einem Drama zu liefern vermögen, liegt auf
der Hand. Es war die Aufgabe des Dichters, den Untergang Roderich's und
der Westgothen zu motiviren und damit erst einen wirklich dramatischen In¬
halt dem äußeren Stoff zu verleihen. Es stand ihm frei, durch Erfindung
von Details und Zusätzen diesen Inhalt frei zu schaffen. Möglich war es,
den Untergang Roderich's mit jener romantischen Beziehung zwischen ihm und
der Tochter des Julianus in Verbindung zu bringen: ein interessantes und
spannendes Liebesdrama hätte sich daraus machen lassen! Aber dahin ging
nicht die Absicht Dahn's. Obgleich er auch dies Motiv verwerthet, ging er
darauf aus, einen viel größeren Gedankeninhalt für sein Werk zu gewinnen.
Und nicht sowohl die einzelnen Thatsachen der Ueberlieferung, als die ihm
aus seinen historischen Studien erwachsene Einsicht in den Zusammenhang und
die Verkettung der Ereignisse bot ihm die dem Drama zu Grunde liegende
Idee dar.

Ein Ergebniß der historischen Forschung über die westgothische Geschichte
ist das folgende. Das Gothische Reich ist vollständig von der Kirche beherrscht
gewesen: Königthum und Aristokratie waren dienende Faktoren gegenüber der
übermächtigen Stellung des Clerus und der Kirche. Und dieses Ueberwuchern
der kirchlichen Macht im staatlichen Leben der Nation hatte die Lebenskraft
des Staates vernichtet und untergraben. Der Untergang des Gothenreiches
war nach übereinstimmendem Urtheil der Historiker die Folge der Priesterherr¬
schaft über die Gothen: die Schaaren Taret's brachen nur die Frucht, die
schon überreif war; der Einfall der Mauren war nur der äußere Anstoß, der
den morschen Bau umwarf.

Indem der Gelehrte Dahn dem Dichter Dahn diesen Gedanken, — wie
gesagt, das unbestrittene Ergebniß der bisherigen Studien — übermittelte, war
die leitende Idee für das historische Trauerspiel gewonnen, eine Idee, welche
in der Empfindung unserer Zeitgenossen dem lebhaftesten Echo zu begegnen
gewiß war.

Wie König Roderich historisch sich zu der kirchlichen Uebermacht verhalten,
wie weit vielleicht sein Untergang mit der Stellung zur Kirche in Beziehung



") Nach neueren Untersuchungen ist übrigens dieser Julianus ein Statthalter des byzan¬
tinischen Kaisers, nicht ein Gothe gewesen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/97>, abgerufen am 06.02.2025.