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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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Tische ein Mann in gewöhnlicher Kleidung stand, der den Versammelten, etwa
vierzig Frauen und sechs oder sieben Männern, ein Kapitel aus dem Briefe
an die Römer vorlas. Wände und Decke waren einfach weiß getüncht. Auf
der einen Seite hing ein Kruzifix, sonst war von Bild- und Schmuckwerk
nichts zu sehen. Nach der Vorlesung folgte eine kurze Betrachtung im Styl
des gemeinen Mannes, deren Gedanken und Redensarten sich immer und
immer wiederholten. Dann gab es einen Vers, der recht munter klang und
in dessen raschem Tempo ich das alte Studentenlied: "Lasset die feurigen Bom¬
ben erschallen" -- zur Steuer der Wahrheit sei bemerkt, ohne das "Piff, pass,
puff, Viderallerallera" -- wiedererkannte. Dann Aufforderung eines der
Männer zum Beten, der ohne Verzug, geläufig und reichlich entsprochen
wurde. Wie das Wasser aus einem Röhrbrunnen, so flössen die Worte ein¬
tönig und ohne Absatz, nur zuweilen von stören und Wimmern unterbrochen
oder von articulirten Ausrufungen einer andächtigen Baßstimme begleitet,
wohl zehn Minuten fort. Als der Brunnen nach einem Amen versiegte, sang
man wieder eine lebhafte Arie. Darauf Gebet eines andern Bruders, dann
nochmals Gesang der Gemeinde, Gebet einer Schwester, Liedervers und so ab¬
wechselnd fort, sodaß mir, da Alles beim Beten niederzuknien hatte, schließlich
die Knie schmerzten.

Probe eines solchen Gebetes:

Mann auf der Erhöhung: "Schwester L." (seil, beten Sie!) -- Schwester
L: "Ach Du lieber, lieber Heiland, der Du Dein theures Blut am Kreuzes¬
stamme vergossen hast für unsre Sünden, segne uns doch in dieser Abend-
-stunde!" (Baßstimme: "Ja. ja, Herr Jesu!") "Ach Du Erlöser und Selig¬
macher, hilf mich doch, daß ich meine Sünden recht einsehe, daß ich mich bessere,
damit ich dermaleinst zu die Gerechte zu stehen komme bei das große Straf¬
gericht." (Baßstimme: "O Herr, hilf, o Herr Jesu!") "Und daß ich mir in
Acht nehmen thue vor die Stricke des bösen Feindes und ein zerknirschtes
Herz habe, und daß ich die Lüste des Fleisches fliehe." (Wimmernde Mädchen¬
stimme: "Ach Herr und Heiland!") "Und daß ich immer nach dem Himmel¬
reich strebe. Amen." (Baßstimme dröhnend: "Amen!") U. s. w. u. s. w.

Bei den Liebesfesten, wo die besonders Heiligen ihre Bekehrung (Paulus
und Saulus sind Lieblingsworte dabei) zu erzählen Pflegen, soll es noch viel
wunderlicher hergehen. Theodor hat z. B. Weiber in ihrer Verzücktheit über
Tische und Bänke springen und an den Wänden emporstreben sehen, um eine
ihnen dort leuchtende Christusgestalt zu umarmen.

Abends spät noch Besuch bei dem Methodisten Weckel, wo zwei Prediger
der Secte sich einfinden, von denen der eine erst Küfer, der andere Kanal¬
arbeiter gewesen ist, was nicht hindert, daß sie jetzt recht selbstbewußt auftreten.
Nach ihnen kam ein dritter, der Schwiegersohn W.'s, der, weil seine Frau


Tische ein Mann in gewöhnlicher Kleidung stand, der den Versammelten, etwa
vierzig Frauen und sechs oder sieben Männern, ein Kapitel aus dem Briefe
an die Römer vorlas. Wände und Decke waren einfach weiß getüncht. Auf
der einen Seite hing ein Kruzifix, sonst war von Bild- und Schmuckwerk
nichts zu sehen. Nach der Vorlesung folgte eine kurze Betrachtung im Styl
des gemeinen Mannes, deren Gedanken und Redensarten sich immer und
immer wiederholten. Dann gab es einen Vers, der recht munter klang und
in dessen raschem Tempo ich das alte Studentenlied: „Lasset die feurigen Bom¬
ben erschallen" — zur Steuer der Wahrheit sei bemerkt, ohne das „Piff, pass,
puff, Viderallerallera" — wiedererkannte. Dann Aufforderung eines der
Männer zum Beten, der ohne Verzug, geläufig und reichlich entsprochen
wurde. Wie das Wasser aus einem Röhrbrunnen, so flössen die Worte ein¬
tönig und ohne Absatz, nur zuweilen von stören und Wimmern unterbrochen
oder von articulirten Ausrufungen einer andächtigen Baßstimme begleitet,
wohl zehn Minuten fort. Als der Brunnen nach einem Amen versiegte, sang
man wieder eine lebhafte Arie. Darauf Gebet eines andern Bruders, dann
nochmals Gesang der Gemeinde, Gebet einer Schwester, Liedervers und so ab¬
wechselnd fort, sodaß mir, da Alles beim Beten niederzuknien hatte, schließlich
die Knie schmerzten.

Probe eines solchen Gebetes:

Mann auf der Erhöhung: „Schwester L." (seil, beten Sie!) — Schwester
L: „Ach Du lieber, lieber Heiland, der Du Dein theures Blut am Kreuzes¬
stamme vergossen hast für unsre Sünden, segne uns doch in dieser Abend-
-stunde!« (Baßstimme: „Ja. ja, Herr Jesu!") „Ach Du Erlöser und Selig¬
macher, hilf mich doch, daß ich meine Sünden recht einsehe, daß ich mich bessere,
damit ich dermaleinst zu die Gerechte zu stehen komme bei das große Straf¬
gericht." (Baßstimme: „O Herr, hilf, o Herr Jesu!") „Und daß ich mir in
Acht nehmen thue vor die Stricke des bösen Feindes und ein zerknirschtes
Herz habe, und daß ich die Lüste des Fleisches fliehe." (Wimmernde Mädchen¬
stimme: „Ach Herr und Heiland!") „Und daß ich immer nach dem Himmel¬
reich strebe. Amen." (Baßstimme dröhnend: „Amen!") U. s. w. u. s. w.

Bei den Liebesfesten, wo die besonders Heiligen ihre Bekehrung (Paulus
und Saulus sind Lieblingsworte dabei) zu erzählen Pflegen, soll es noch viel
wunderlicher hergehen. Theodor hat z. B. Weiber in ihrer Verzücktheit über
Tische und Bänke springen und an den Wänden emporstreben sehen, um eine
ihnen dort leuchtende Christusgestalt zu umarmen.

Abends spät noch Besuch bei dem Methodisten Weckel, wo zwei Prediger
der Secte sich einfinden, von denen der eine erst Küfer, der andere Kanal¬
arbeiter gewesen ist, was nicht hindert, daß sie jetzt recht selbstbewußt auftreten.
Nach ihnen kam ein dritter, der Schwiegersohn W.'s, der, weil seine Frau


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/63>, abgerufen am 06.02.2025.