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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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den arbeitenden Klassen zu verdecken oder gar wegzuläugnen sich bemühen, eben¬
so aber diejenigen, welche Jeden, der für das Wohl des Arbeiterstandes einzu¬
treten sich berufen fühlt, in den Verdacht socialdemokratischer und revolutio¬
närer Tendenzen zu bringen suchen. Leider geschieht dies noch sehr häufig,
namentlich Seitens egoistischer Arbeitgeber und Seitens der von letzteren ab¬
hängigen Presse. Ein derartiges Verfahren trägt in hohem Grade dazu bei,
die Macht und den Einfluß der Socialdemokratie zu verstärken. Wer die
Zustände unserer arbeitenden Klassen irgend kennt, muß zugestehen, daß die¬
selben in vieler Beziehung noch durchaus unbefriedigende, der Besse¬
rung dringend bedürftige sind, und ferner daß den am meisten gerechtfertigten
Beschwerden der Arbeiter abgeholfen werden kann, ohne die Grundlagen
unseres jetzigen wirthschaftlichen Lebens zu erschüttern. Freilich ist hierzu
nöthig, daß die höheren Klassen der Gesellschaft und namentlich der Arbeit¬
geber mit größerem Verständniß und mit geringerem Egoismus an die Prü¬
fung und Verbesserung^ der Lage der Arbeiter herantreten, als dies bis jetzt
leider im Allgemeinen geschieht.

Wir feiern heute den Geburtstag des preußischen Königs und
deutschen Kaisers; bei dieser Gelegenheit rufen wir mit freudigem Stolze
uns gern ins-Gedächtniß zurück, wie unparteiisch, aufopfernd, alle widerstre¬
benden Mächte gering achtend die Hohenzollern stets für die Interessen aller
Klassen ihrer Unterthanen eingetreten sind, wie sie mit gewaltiger Hand und
oft rücksichtsloser Strenge die Schwächeren vor der Unterdrückung durch die
Stärkeren geschützt haben, wie sie endlich, im entschiedensten Gegensatz gegen
einen großen Theil der einflußreichen Großgrundbesitzer, den bäuerlichen Stand
vor dem Untergang gerettet und den an die Scholle gefesselten Gutsunterthanen
zur persönlichen und wirtschaftlichen Freiheit verholfen haben. Wir gedenken
namentlich der, nun 60--70 Jahre hinter uns liegenden Zeit, als der Vater
unseres jetzigen Kaisers, berathen und gestützt von den edelsten und weisesten
Männern ihrer Zeit, die großartige Gesetzgebung erließ, welche dem gesammten
gesellschaftlichen und wirthschaftlichen Leben des Volkes neue zeitgemäße
Formen gab und neue, die allgemeine Wohlfahrt fördernde Bahnen eröffnete.
Aber das damals begonnene segensreiche Werk ist noch nicht zum Abschluß ge¬
diehen. Die individuellen wirthschaftlichen Kräfte sind möglichst frei gemacht
und damit ist der vorhandenen Leistungsfähigkeit auf wirthschaftlichem Gebiete
der weiteste Spielraum gewährt worden. Dagegen fehlt noch eine organi¬
sche Zusammenfassung der isolirten, jetzt ganz sich selbst überlassenen
Millionen von Arbeitern, welche, einmal losgerissen von der heimathlichen
Sitte und der Verbindung mit der übrigen bürgerlichen Gesellschaft, heutzutage
Jedem blindlings folgen, der mit irgend einem Scheine von Berechtigung sich


den arbeitenden Klassen zu verdecken oder gar wegzuläugnen sich bemühen, eben¬
so aber diejenigen, welche Jeden, der für das Wohl des Arbeiterstandes einzu¬
treten sich berufen fühlt, in den Verdacht socialdemokratischer und revolutio¬
närer Tendenzen zu bringen suchen. Leider geschieht dies noch sehr häufig,
namentlich Seitens egoistischer Arbeitgeber und Seitens der von letzteren ab¬
hängigen Presse. Ein derartiges Verfahren trägt in hohem Grade dazu bei,
die Macht und den Einfluß der Socialdemokratie zu verstärken. Wer die
Zustände unserer arbeitenden Klassen irgend kennt, muß zugestehen, daß die¬
selben in vieler Beziehung noch durchaus unbefriedigende, der Besse¬
rung dringend bedürftige sind, und ferner daß den am meisten gerechtfertigten
Beschwerden der Arbeiter abgeholfen werden kann, ohne die Grundlagen
unseres jetzigen wirthschaftlichen Lebens zu erschüttern. Freilich ist hierzu
nöthig, daß die höheren Klassen der Gesellschaft und namentlich der Arbeit¬
geber mit größerem Verständniß und mit geringerem Egoismus an die Prü¬
fung und Verbesserung^ der Lage der Arbeiter herantreten, als dies bis jetzt
leider im Allgemeinen geschieht.

Wir feiern heute den Geburtstag des preußischen Königs und
deutschen Kaisers; bei dieser Gelegenheit rufen wir mit freudigem Stolze
uns gern ins-Gedächtniß zurück, wie unparteiisch, aufopfernd, alle widerstre¬
benden Mächte gering achtend die Hohenzollern stets für die Interessen aller
Klassen ihrer Unterthanen eingetreten sind, wie sie mit gewaltiger Hand und
oft rücksichtsloser Strenge die Schwächeren vor der Unterdrückung durch die
Stärkeren geschützt haben, wie sie endlich, im entschiedensten Gegensatz gegen
einen großen Theil der einflußreichen Großgrundbesitzer, den bäuerlichen Stand
vor dem Untergang gerettet und den an die Scholle gefesselten Gutsunterthanen
zur persönlichen und wirtschaftlichen Freiheit verholfen haben. Wir gedenken
namentlich der, nun 60—70 Jahre hinter uns liegenden Zeit, als der Vater
unseres jetzigen Kaisers, berathen und gestützt von den edelsten und weisesten
Männern ihrer Zeit, die großartige Gesetzgebung erließ, welche dem gesammten
gesellschaftlichen und wirthschaftlichen Leben des Volkes neue zeitgemäße
Formen gab und neue, die allgemeine Wohlfahrt fördernde Bahnen eröffnete.
Aber das damals begonnene segensreiche Werk ist noch nicht zum Abschluß ge¬
diehen. Die individuellen wirthschaftlichen Kräfte sind möglichst frei gemacht
und damit ist der vorhandenen Leistungsfähigkeit auf wirthschaftlichem Gebiete
der weiteste Spielraum gewährt worden. Dagegen fehlt noch eine organi¬
sche Zusammenfassung der isolirten, jetzt ganz sich selbst überlassenen
Millionen von Arbeitern, welche, einmal losgerissen von der heimathlichen
Sitte und der Verbindung mit der übrigen bürgerlichen Gesellschaft, heutzutage
Jedem blindlings folgen, der mit irgend einem Scheine von Berechtigung sich


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[0059] den arbeitenden Klassen zu verdecken oder gar wegzuläugnen sich bemühen, eben¬ so aber diejenigen, welche Jeden, der für das Wohl des Arbeiterstandes einzu¬ treten sich berufen fühlt, in den Verdacht socialdemokratischer und revolutio¬ närer Tendenzen zu bringen suchen. Leider geschieht dies noch sehr häufig, namentlich Seitens egoistischer Arbeitgeber und Seitens der von letzteren ab¬ hängigen Presse. Ein derartiges Verfahren trägt in hohem Grade dazu bei, die Macht und den Einfluß der Socialdemokratie zu verstärken. Wer die Zustände unserer arbeitenden Klassen irgend kennt, muß zugestehen, daß die¬ selben in vieler Beziehung noch durchaus unbefriedigende, der Besse¬ rung dringend bedürftige sind, und ferner daß den am meisten gerechtfertigten Beschwerden der Arbeiter abgeholfen werden kann, ohne die Grundlagen unseres jetzigen wirthschaftlichen Lebens zu erschüttern. Freilich ist hierzu nöthig, daß die höheren Klassen der Gesellschaft und namentlich der Arbeit¬ geber mit größerem Verständniß und mit geringerem Egoismus an die Prü¬ fung und Verbesserung^ der Lage der Arbeiter herantreten, als dies bis jetzt leider im Allgemeinen geschieht. Wir feiern heute den Geburtstag des preußischen Königs und deutschen Kaisers; bei dieser Gelegenheit rufen wir mit freudigem Stolze uns gern ins-Gedächtniß zurück, wie unparteiisch, aufopfernd, alle widerstre¬ benden Mächte gering achtend die Hohenzollern stets für die Interessen aller Klassen ihrer Unterthanen eingetreten sind, wie sie mit gewaltiger Hand und oft rücksichtsloser Strenge die Schwächeren vor der Unterdrückung durch die Stärkeren geschützt haben, wie sie endlich, im entschiedensten Gegensatz gegen einen großen Theil der einflußreichen Großgrundbesitzer, den bäuerlichen Stand vor dem Untergang gerettet und den an die Scholle gefesselten Gutsunterthanen zur persönlichen und wirtschaftlichen Freiheit verholfen haben. Wir gedenken namentlich der, nun 60—70 Jahre hinter uns liegenden Zeit, als der Vater unseres jetzigen Kaisers, berathen und gestützt von den edelsten und weisesten Männern ihrer Zeit, die großartige Gesetzgebung erließ, welche dem gesammten gesellschaftlichen und wirthschaftlichen Leben des Volkes neue zeitgemäße Formen gab und neue, die allgemeine Wohlfahrt fördernde Bahnen eröffnete. Aber das damals begonnene segensreiche Werk ist noch nicht zum Abschluß ge¬ diehen. Die individuellen wirthschaftlichen Kräfte sind möglichst frei gemacht und damit ist der vorhandenen Leistungsfähigkeit auf wirthschaftlichem Gebiete der weiteste Spielraum gewährt worden. Dagegen fehlt noch eine organi¬ sche Zusammenfassung der isolirten, jetzt ganz sich selbst überlassenen Millionen von Arbeitern, welche, einmal losgerissen von der heimathlichen Sitte und der Verbindung mit der übrigen bürgerlichen Gesellschaft, heutzutage Jedem blindlings folgen, der mit irgend einem Scheine von Berechtigung sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/59>, abgerufen am 06.02.2025.