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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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als diejenige Volksklasse, in welcher allein noch Fleiß, Redlichkeit, Brüderlich¬
keit. Gemeinsinn herrsche; die Glieder der übrigen Volksklassen, und zwar bis
in die höchsten und regierenden Kreise hinauf, sind Tagediebe, Tyrannen,
Wollüstlinge, welche sich von dem Schweiße und Blute der unterdrückten Ar¬
beiter mästen. Ihre theoretischen, volkswirthschaftlichen Erörterungen, welche
sie zur Belehrung der Arbeiter vorzutragen pflegen, würzen sie mit aller¬
lei gelehrten Phrasen und Citaten, um den Anschein zu erwecken, als ob
sie auf der Höhe der Wissenschaft ständen und letztere ganz auf ihre Seite
hätten.

Das Geheimniß der erfolgreichen Wirksamkeit der Socialdemokratie beruht
vorzüglich in zwei Dingen: einmal daß sie das Bedürfniß der Arbeiter nach
einer den gemeinsamen Interessen dienenden Organisation befriedigt, und fürs
Zweite, daß sie durch rücksichtslose Aufdeckung und energische Bekämpfung
unzweifelhafter Uebelstände in der Lage der arbeitenden Klassen bei letzterer
die Meinung zu erwecken verstanden, als ob das zukünftige Wohl der Arbeiter
von der Verwirklichung der socialistischen Grundsätze lediglich abhänge.

Hieraus erklärt sich auch, weshalb der Einfluß der Socialisten in den
einzelnen Gegenden oder Orten Deutschlands ein so verschieden großer ist.
Derselbe zeigt sich dort am stärksten, wo durch die Zusammenhäufung von
großen Arbeitermassen auf verhältnißmäßig kleinen Räumen das Bedürfniß
nach einer einheitlichen Organisation und Leitung behufs Verfolgung der ge¬
meinsamen Interessen besonders lebhaft empfunden wird; ferner dort, wo der
Mangel an einem kräftigen nationalen Bewußtsein, welches in allen Gliedern
des Volkes das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem großen, gemeinsamen
Ganzen wach erhält, in den Arbeitern leicht die Empfindung hervorruft, daß
sie überhaupt von der Mitwirkung an der Entwicklung des staatlichen Lebens
ausgeschlossen seien und daß ihre eigenen Interessen außer jedem Zusammen¬
hang mit dem Interesse der den Staat lenkenden Parteien stehen; endlich
dort, wo, sei es mit sei es ohne Schuld der Arbeitgeber, die wirthschaftliche
und gesellschaftliche Lage der Arbeiter eine in hervorragendem Maße unbefrie¬
digende ist. Auf einen dieser drei Gründe läßt sich meines Erachtens in allen
Fällen eine besonders erfolgreiche Wirksamkeit der Socialdemokratie zurück¬
führen.

Wenn Ultramontanismus und Socialismus sich gegenseitig aus¬
schließen, wenn innerhalb desselben räumlichen Bezirkes nicht beide herrschen
können, so liegt dies einfach daran, daß jener den Arbeitern im Wesentlichen
ganz dasselbe wie dieser darbietet oder darzubieten scheint. Die Ultramontanen
kennen die Bedürfnisse, Wünsche und Empfindungen der Arbeiter ebenso ge¬
nau wie die Socialdemokraten. In den mancherlei katholischen socialen Ver¬
einen suchen sie das Bedürfniß der Arbeiter nach einer Organisation, nach


als diejenige Volksklasse, in welcher allein noch Fleiß, Redlichkeit, Brüderlich¬
keit. Gemeinsinn herrsche; die Glieder der übrigen Volksklassen, und zwar bis
in die höchsten und regierenden Kreise hinauf, sind Tagediebe, Tyrannen,
Wollüstlinge, welche sich von dem Schweiße und Blute der unterdrückten Ar¬
beiter mästen. Ihre theoretischen, volkswirthschaftlichen Erörterungen, welche
sie zur Belehrung der Arbeiter vorzutragen pflegen, würzen sie mit aller¬
lei gelehrten Phrasen und Citaten, um den Anschein zu erwecken, als ob
sie auf der Höhe der Wissenschaft ständen und letztere ganz auf ihre Seite
hätten.

Das Geheimniß der erfolgreichen Wirksamkeit der Socialdemokratie beruht
vorzüglich in zwei Dingen: einmal daß sie das Bedürfniß der Arbeiter nach
einer den gemeinsamen Interessen dienenden Organisation befriedigt, und fürs
Zweite, daß sie durch rücksichtslose Aufdeckung und energische Bekämpfung
unzweifelhafter Uebelstände in der Lage der arbeitenden Klassen bei letzterer
die Meinung zu erwecken verstanden, als ob das zukünftige Wohl der Arbeiter
von der Verwirklichung der socialistischen Grundsätze lediglich abhänge.

Hieraus erklärt sich auch, weshalb der Einfluß der Socialisten in den
einzelnen Gegenden oder Orten Deutschlands ein so verschieden großer ist.
Derselbe zeigt sich dort am stärksten, wo durch die Zusammenhäufung von
großen Arbeitermassen auf verhältnißmäßig kleinen Räumen das Bedürfniß
nach einer einheitlichen Organisation und Leitung behufs Verfolgung der ge¬
meinsamen Interessen besonders lebhaft empfunden wird; ferner dort, wo der
Mangel an einem kräftigen nationalen Bewußtsein, welches in allen Gliedern
des Volkes das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem großen, gemeinsamen
Ganzen wach erhält, in den Arbeitern leicht die Empfindung hervorruft, daß
sie überhaupt von der Mitwirkung an der Entwicklung des staatlichen Lebens
ausgeschlossen seien und daß ihre eigenen Interessen außer jedem Zusammen¬
hang mit dem Interesse der den Staat lenkenden Parteien stehen; endlich
dort, wo, sei es mit sei es ohne Schuld der Arbeitgeber, die wirthschaftliche
und gesellschaftliche Lage der Arbeiter eine in hervorragendem Maße unbefrie¬
digende ist. Auf einen dieser drei Gründe läßt sich meines Erachtens in allen
Fällen eine besonders erfolgreiche Wirksamkeit der Socialdemokratie zurück¬
führen.

Wenn Ultramontanismus und Socialismus sich gegenseitig aus¬
schließen, wenn innerhalb desselben räumlichen Bezirkes nicht beide herrschen
können, so liegt dies einfach daran, daß jener den Arbeitern im Wesentlichen
ganz dasselbe wie dieser darbietet oder darzubieten scheint. Die Ultramontanen
kennen die Bedürfnisse, Wünsche und Empfindungen der Arbeiter ebenso ge¬
nau wie die Socialdemokraten. In den mancherlei katholischen socialen Ver¬
einen suchen sie das Bedürfniß der Arbeiter nach einer Organisation, nach


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/57>, abgerufen am 06.02.2025.