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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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Zugehörigkeit zu einer gewerblichen Corporation oder die gesetzliche Abhängigkeit
von einem bestimmten Arbeitgeber gewährte. Sie selbst empfinden dies lebhaft,
wenn es ihnen auch nicht zum klaren Bewußtsein kommt: sie suchen nach
neuen Formen der Gemeinschaft und nach neuen Führern, denen sie sich an¬
schließen und denen sie ihre Interessen anvertrauen können. Beides wird ihnen,
wenngleich in sehr unersprießlicher Weise, von der Socialdemokratie geboten.
Wenn die Socialisten einen Ruhm für sich in Anspruch nehmen wollen, so
gebührt ihnen am meisten der, daß sie nach vielen Richtungen hin die Be¬
dürfnisse des Arbeiterstandes besser zu beurtheilen vermögen als irgend ein
Anderer. Sie bieten in ihren Vereinen den Arbeitern das Mittel zu geselliger
Erholung, zur Befriedigung geistiger Bedürfnisse, zur Besprechung gemeinsamer
Angelegenheiten, zur Beschlußfassung über die Mittel, durch welche ihre
Wünsche am besten zur Verwirklichung gelangen können. Mag die Art und
Weise, in welcher diese Zwecke verfolgt werden, noch so verkehrt, ja verwerflich
sein: einer sehr großen Zahl von Arbeitern scheint dies gleichgültig oder
doch von untergeordneter Bedeutung. Den meisten Arbeitern fehlt es durch¬
aus an der nöthigen Bildung, um beurtheilen zu können, in wie weit die
von der Socialdemokratie erstrebten Ziele erreichbar oder auch nur ihren
eigenen Interessen entsprechend sind. Sie hören tagtäglich, daß die ungünstige
äußere Lage der Arbeiter lediglich Folge einer schlechten, in den Händen der
Arbeitnehmer befindlichen Gesetzgebung sei; es wird ihnen vorgeredet, daß die
Arbeitgeber ihnen einen Theil des gebührenden Lohnes zu Unrecht vorbe¬
halten; es wird über die zu lange Arbeitszeit, über die Sonntagsarbeit, über
die der Gesundheit schädliche Beschaffenheit der Arbeitsräume, über die per¬
sönlich inhumane Behandlung der Arbeiter Seitens der Arbeitgeber geklagt.
Dabei wird einiges Wahre mit vielem Unwahren vermischt, um letzterem
desto leichter Glaubwürdigkeit zu verleihen. Die Socialisten dürfen sich auch
mit Recht rühmen, schon Erfolge zu Gunsten der Arbeiter erzielt zu haben.
Kein Unparteiischer kann leugnen, daß es wesentlich der Thätigkeit der So¬
cialdemokratie und der Furcht vor derselben Seitens der höheren Volksklassen
zu danken ist, wenn sich heutzutage Staat und Gesellschaft eifriger wie früher
damit beschäftigen, die in Bezug auf die arbeitenden Klassen wirklich vor¬
handenen Uebelstände ausfindig zu machen und zu beseitigen. Auf diese Er¬
rungenschaft berufen sich die socialistischen Führer mit gerechtfertigten Stolz;
sie sagen ihren Anhängern- Ihr seht, was wir schon in Eurem Interesse
geleistet haben, folgt uns nur weiter, wir werden auch mit unseren übrigen
Bestrebungen ans Ziel gelangen!

Dabei schmeicheln sie dem Arbeiterstande in einer sonst unerhörten Weise;
namentlich Lasalle hatte es hierin zu einer unübertroffenen Virtuosität ge¬
bracht. Die Arbeiter werden dargestellt als die allein arbeitenden Menschen,


Zugehörigkeit zu einer gewerblichen Corporation oder die gesetzliche Abhängigkeit
von einem bestimmten Arbeitgeber gewährte. Sie selbst empfinden dies lebhaft,
wenn es ihnen auch nicht zum klaren Bewußtsein kommt: sie suchen nach
neuen Formen der Gemeinschaft und nach neuen Führern, denen sie sich an¬
schließen und denen sie ihre Interessen anvertrauen können. Beides wird ihnen,
wenngleich in sehr unersprießlicher Weise, von der Socialdemokratie geboten.
Wenn die Socialisten einen Ruhm für sich in Anspruch nehmen wollen, so
gebührt ihnen am meisten der, daß sie nach vielen Richtungen hin die Be¬
dürfnisse des Arbeiterstandes besser zu beurtheilen vermögen als irgend ein
Anderer. Sie bieten in ihren Vereinen den Arbeitern das Mittel zu geselliger
Erholung, zur Befriedigung geistiger Bedürfnisse, zur Besprechung gemeinsamer
Angelegenheiten, zur Beschlußfassung über die Mittel, durch welche ihre
Wünsche am besten zur Verwirklichung gelangen können. Mag die Art und
Weise, in welcher diese Zwecke verfolgt werden, noch so verkehrt, ja verwerflich
sein: einer sehr großen Zahl von Arbeitern scheint dies gleichgültig oder
doch von untergeordneter Bedeutung. Den meisten Arbeitern fehlt es durch¬
aus an der nöthigen Bildung, um beurtheilen zu können, in wie weit die
von der Socialdemokratie erstrebten Ziele erreichbar oder auch nur ihren
eigenen Interessen entsprechend sind. Sie hören tagtäglich, daß die ungünstige
äußere Lage der Arbeiter lediglich Folge einer schlechten, in den Händen der
Arbeitnehmer befindlichen Gesetzgebung sei; es wird ihnen vorgeredet, daß die
Arbeitgeber ihnen einen Theil des gebührenden Lohnes zu Unrecht vorbe¬
halten; es wird über die zu lange Arbeitszeit, über die Sonntagsarbeit, über
die der Gesundheit schädliche Beschaffenheit der Arbeitsräume, über die per¬
sönlich inhumane Behandlung der Arbeiter Seitens der Arbeitgeber geklagt.
Dabei wird einiges Wahre mit vielem Unwahren vermischt, um letzterem
desto leichter Glaubwürdigkeit zu verleihen. Die Socialisten dürfen sich auch
mit Recht rühmen, schon Erfolge zu Gunsten der Arbeiter erzielt zu haben.
Kein Unparteiischer kann leugnen, daß es wesentlich der Thätigkeit der So¬
cialdemokratie und der Furcht vor derselben Seitens der höheren Volksklassen
zu danken ist, wenn sich heutzutage Staat und Gesellschaft eifriger wie früher
damit beschäftigen, die in Bezug auf die arbeitenden Klassen wirklich vor¬
handenen Uebelstände ausfindig zu machen und zu beseitigen. Auf diese Er¬
rungenschaft berufen sich die socialistischen Führer mit gerechtfertigten Stolz;
sie sagen ihren Anhängern- Ihr seht, was wir schon in Eurem Interesse
geleistet haben, folgt uns nur weiter, wir werden auch mit unseren übrigen
Bestrebungen ans Ziel gelangen!

Dabei schmeicheln sie dem Arbeiterstande in einer sonst unerhörten Weise;
namentlich Lasalle hatte es hierin zu einer unübertroffenen Virtuosität ge¬
bracht. Die Arbeiter werden dargestellt als die allein arbeitenden Menschen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/56>, abgerufen am 06.02.2025.