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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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menen Enquete über die Lage der ländlichen Arbeiter im deutschen Reiche habe
ich mich bemüht, auch gewisse Anhaltspunkte zur Entscheidung der Frage zu
gewinnen, ob die Sittlichkeit unter den ländlichen Arbeitern während der letzten
Jahrzehnte zu- oder abgenommen habe. Dabei war es mir ebenso erfreulich,
als interessant, aus den Hunderten von eingelaufenen, meist von ländlichen
Arbeitgebern herrührenden Mittheilungen constatiren zu können, daß keines¬
falls ein Rückgang in der sittlichen Entwicklung der ländlichen Arbeiter statt¬
gefunden hat. Von etwa 4S0 Beantwortungen sprechen sich nahezu zwei
Drittel dahin aus, daß eine theilweise oder durchgängige Hebung des sittlichen
Zustandes zugegeben werden müsse, während nur ein Drittel erklärt, daß in
dieser Beziehung keine Veränderung oder gar ein Rückschritt bemerkbar sei.
Erwähnenswert!) sind die Mittheilungen aus Holstein. Dieselben ländlichen Ar¬
beitgeber, welche über den großen Erfolg der socialdemokratischen Agitation
unter ihren Arbeitern klagen, sagen doch fast ausnahmslos, daß die sittliche
Haltung der letzteren sich gebessert habe. Nun muß freilich zugestanden werden,
daß das Urtheil über das Steigen oder Sinken der Sittlichkeit in einer Volks¬
klasse immerhin ein subjektives bleibt; aber es ist doch ein sehr erfreuliches
Zeichen, wenn die überwiegende Mehrheit von Arbeitgebern, bei welchen man
heutzutage eher ein ungünstiges als ein günstiges Vorurtheil bezüglich des
sittlichen Fortschrittes der Arbeitnehmer voraussetzen darf, das Vorhandensein
eines solchen bestätigen zu müssen glaubt. Man kann auch dem Umstände
kein zu großes Gewicht beilegen, daß öfters aus den nämlichen oder nahe
bei einander liegenden Bezirken entgegengesetzte Urtheile laut werden. Die
Sittlichkeit einer Volksklasse äußert sich in sehr verschiedenartiger Weise; es
kann sehr wohl in Bezug auf eine Eigenschaft ein Fortschritt, in Bezug auf
eine andere ein Rückschritt stattgefunden haben. Je nachdem nun der Beur¬
theiler diese oder jene Seite mehr im Auge hat, wird die Frage nach der sittlichen
Hebung verneint oder bejaht. So weit die vorliegenden Angaben reichen,
scheint bei den ländlichen Arbeitern in Deutschland ziemlich allgemein der
Diebstahl abgenommen zu haben, in vielen Gegenden auch die geschlechtlichen
Vergehungen, ferner im nördlichen Deutschland die Trunksucht; dagegen wird
häusig geklagt über eine Zunahme des Ungehorsams, der Unlust zur Ar¬
beit, über die geringeren Arbeitsleistungen, über die wachsende Unwirthschaft-
lichkeit. Aehnliche Klagen werden ja auch in Bezug auf die industriellen Arbeiter
oft gehört. Zum Theil sind sie gewiß berechtigt; die getadelten Untugenden
hängen innig zusammen mit der neueren Entwicklung unserer wirthschaftlichen
Verhältnisse, namentlich mit der starken Steigerung der Arbeitslöhne und mit
der größeren Freiheit, welche den Arbeitern durch die Gesetzgebung der letzten
Jahre fast unvorbereitet zu Theil wurde. Andrerseits darf man aber auch
nicht übersehen, daß grade von den hervorgehobenen sittlichen Mängeln der


menen Enquete über die Lage der ländlichen Arbeiter im deutschen Reiche habe
ich mich bemüht, auch gewisse Anhaltspunkte zur Entscheidung der Frage zu
gewinnen, ob die Sittlichkeit unter den ländlichen Arbeitern während der letzten
Jahrzehnte zu- oder abgenommen habe. Dabei war es mir ebenso erfreulich,
als interessant, aus den Hunderten von eingelaufenen, meist von ländlichen
Arbeitgebern herrührenden Mittheilungen constatiren zu können, daß keines¬
falls ein Rückgang in der sittlichen Entwicklung der ländlichen Arbeiter statt¬
gefunden hat. Von etwa 4S0 Beantwortungen sprechen sich nahezu zwei
Drittel dahin aus, daß eine theilweise oder durchgängige Hebung des sittlichen
Zustandes zugegeben werden müsse, während nur ein Drittel erklärt, daß in
dieser Beziehung keine Veränderung oder gar ein Rückschritt bemerkbar sei.
Erwähnenswert!) sind die Mittheilungen aus Holstein. Dieselben ländlichen Ar¬
beitgeber, welche über den großen Erfolg der socialdemokratischen Agitation
unter ihren Arbeitern klagen, sagen doch fast ausnahmslos, daß die sittliche
Haltung der letzteren sich gebessert habe. Nun muß freilich zugestanden werden,
daß das Urtheil über das Steigen oder Sinken der Sittlichkeit in einer Volks¬
klasse immerhin ein subjektives bleibt; aber es ist doch ein sehr erfreuliches
Zeichen, wenn die überwiegende Mehrheit von Arbeitgebern, bei welchen man
heutzutage eher ein ungünstiges als ein günstiges Vorurtheil bezüglich des
sittlichen Fortschrittes der Arbeitnehmer voraussetzen darf, das Vorhandensein
eines solchen bestätigen zu müssen glaubt. Man kann auch dem Umstände
kein zu großes Gewicht beilegen, daß öfters aus den nämlichen oder nahe
bei einander liegenden Bezirken entgegengesetzte Urtheile laut werden. Die
Sittlichkeit einer Volksklasse äußert sich in sehr verschiedenartiger Weise; es
kann sehr wohl in Bezug auf eine Eigenschaft ein Fortschritt, in Bezug auf
eine andere ein Rückschritt stattgefunden haben. Je nachdem nun der Beur¬
theiler diese oder jene Seite mehr im Auge hat, wird die Frage nach der sittlichen
Hebung verneint oder bejaht. So weit die vorliegenden Angaben reichen,
scheint bei den ländlichen Arbeitern in Deutschland ziemlich allgemein der
Diebstahl abgenommen zu haben, in vielen Gegenden auch die geschlechtlichen
Vergehungen, ferner im nördlichen Deutschland die Trunksucht; dagegen wird
häusig geklagt über eine Zunahme des Ungehorsams, der Unlust zur Ar¬
beit, über die geringeren Arbeitsleistungen, über die wachsende Unwirthschaft-
lichkeit. Aehnliche Klagen werden ja auch in Bezug auf die industriellen Arbeiter
oft gehört. Zum Theil sind sie gewiß berechtigt; die getadelten Untugenden
hängen innig zusammen mit der neueren Entwicklung unserer wirthschaftlichen
Verhältnisse, namentlich mit der starken Steigerung der Arbeitslöhne und mit
der größeren Freiheit, welche den Arbeitern durch die Gesetzgebung der letzten
Jahre fast unvorbereitet zu Theil wurde. Andrerseits darf man aber auch
nicht übersehen, daß grade von den hervorgehobenen sittlichen Mängeln der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/54>, abgerufen am 06.02.2025.