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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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die socialdemokratische Partei habe sich von Grund aus umgedacht. Sie sei
national geworden, sie respectire die vorhandene gesellschaftliche Ordnung, sie
bete und arbeite, sie revolutionire nur noch am Phantom. Und weiter könnte
man annehmen, die Schrift Treitschke's sei durch den Socialistencongreß in
der Residenz des Herzogs von Coburg und das neue Parteiprogramm veralt
tet. Die Wilden seien jetzt doch bessre Menschen geworden. Nun, wer das
Gothaer Programm auch nur mit einiger Aufmerksamkeit liest, wird sofort
zu der Ueberzeugung gelangen, daß von alledem nichts wahr, daß der krasseste
nackteste Kommunismus die einzige Frucht und Devise der neuen "social¬
istischen Arbeiterpartei" und alles Uebrige eitel Blendwerk und Täuschung ist.
Und nun wird man erst recht mit Nutzen zu Treitschke's Schrift greifen und
hier mit Freuden lesen, wie der Verfasser bereits vor beinahe einem Jahr die
in Gotha geeinigten socialen Parteien genau so charakterisirte, wie sie durch
ihr neues Programm sich selbst gekennzeichnet haben.

Die moralische Vernichtung der deutschen Socialdemokratie war aber
keineswegs das einzige Verdienst der Treitschke'schen Schrift. Die scharfe Zu¬
rechtweisung, welche sie der anmaßendsten und leistungsunfähigsten Wirthschafts¬
partei unserer Tage, dem sog. Kathedersocialismus verabreichte, war in dem¬
selben Maße verdienstlich und gleichfalls sehr zeitgemäß. Man brauchte nicht
"Manchestermann" zu sein, um den Namen Treitschke's mit Mißbehagen zu
lesen unter den Einladern zum ersten Congreß der Kathedersocialisten im Herbst
1872, d. h. inmitten jener gemischten Gesellschaft, welche unter dem Schlachtruf
des "ethischen Pathos" von Schmoller und Genossen damals nach Eisenach
aufgeboten wurde. Gerade der Name Treitschke (wie der Name Gneist) hat
aber auch bei Vielen damals die Hoffnung wach gerufen, daß der Eisenacher
Congreß Besseres und Praktischeres leisten werde, als nach dem Temperament
und der Haltung der eigentlichen Veranstalter erwartet werden konnte! Diese
Hoffnung ist bekanntlich nur zum geringsten Theil verwirklicht worden. Neben
vielen trefflichen theoretischen Erörterungen und Arbeiten hat der Congreß der
Kathedermänner eine Menge unreifer Pläne, ungeschickter Experimente ohne
wissenschaftliche Durchbildung mit dem Anspruch auf sofortige Einführung in
die Praxis -- womöglich auf dem Wege der Reichsgesetzgebung -- zu Tage
gefördert. Das große Wort, daß es eine Grausamkeit sei, den Arbeiter zum
Sparen zu mahnen, ist dort gefallen; nicht minder der eines Lasalle würdige
Gedanke, eine Reichsinvalidenkasse für die Millionen deutscher Arbeiter zu er¬
richten. Ins Blaue hinein, ohne jede Erkenntniß oder Messung der natür¬
lichen Schranken, wurde die "sociale Reform" gefordert. Von den Pflichten
der Arbeiter, die man doch wahrlich nicht verkleinern sollte in einer Zeit, da
alle Staatsbürger in ihrer öffentlichen und privaten Thätigkeit einen größeren
Kreis von Pflichten zu bewältigen haben, als je zuvor, und gleichzeitig die


die socialdemokratische Partei habe sich von Grund aus umgedacht. Sie sei
national geworden, sie respectire die vorhandene gesellschaftliche Ordnung, sie
bete und arbeite, sie revolutionire nur noch am Phantom. Und weiter könnte
man annehmen, die Schrift Treitschke's sei durch den Socialistencongreß in
der Residenz des Herzogs von Coburg und das neue Parteiprogramm veralt
tet. Die Wilden seien jetzt doch bessre Menschen geworden. Nun, wer das
Gothaer Programm auch nur mit einiger Aufmerksamkeit liest, wird sofort
zu der Ueberzeugung gelangen, daß von alledem nichts wahr, daß der krasseste
nackteste Kommunismus die einzige Frucht und Devise der neuen „social¬
istischen Arbeiterpartei" und alles Uebrige eitel Blendwerk und Täuschung ist.
Und nun wird man erst recht mit Nutzen zu Treitschke's Schrift greifen und
hier mit Freuden lesen, wie der Verfasser bereits vor beinahe einem Jahr die
in Gotha geeinigten socialen Parteien genau so charakterisirte, wie sie durch
ihr neues Programm sich selbst gekennzeichnet haben.

Die moralische Vernichtung der deutschen Socialdemokratie war aber
keineswegs das einzige Verdienst der Treitschke'schen Schrift. Die scharfe Zu¬
rechtweisung, welche sie der anmaßendsten und leistungsunfähigsten Wirthschafts¬
partei unserer Tage, dem sog. Kathedersocialismus verabreichte, war in dem¬
selben Maße verdienstlich und gleichfalls sehr zeitgemäß. Man brauchte nicht
„Manchestermann" zu sein, um den Namen Treitschke's mit Mißbehagen zu
lesen unter den Einladern zum ersten Congreß der Kathedersocialisten im Herbst
1872, d. h. inmitten jener gemischten Gesellschaft, welche unter dem Schlachtruf
des „ethischen Pathos" von Schmoller und Genossen damals nach Eisenach
aufgeboten wurde. Gerade der Name Treitschke (wie der Name Gneist) hat
aber auch bei Vielen damals die Hoffnung wach gerufen, daß der Eisenacher
Congreß Besseres und Praktischeres leisten werde, als nach dem Temperament
und der Haltung der eigentlichen Veranstalter erwartet werden konnte! Diese
Hoffnung ist bekanntlich nur zum geringsten Theil verwirklicht worden. Neben
vielen trefflichen theoretischen Erörterungen und Arbeiten hat der Congreß der
Kathedermänner eine Menge unreifer Pläne, ungeschickter Experimente ohne
wissenschaftliche Durchbildung mit dem Anspruch auf sofortige Einführung in
die Praxis — womöglich auf dem Wege der Reichsgesetzgebung — zu Tage
gefördert. Das große Wort, daß es eine Grausamkeit sei, den Arbeiter zum
Sparen zu mahnen, ist dort gefallen; nicht minder der eines Lasalle würdige
Gedanke, eine Reichsinvalidenkasse für die Millionen deutscher Arbeiter zu er¬
richten. Ins Blaue hinein, ohne jede Erkenntniß oder Messung der natür¬
lichen Schranken, wurde die „sociale Reform" gefordert. Von den Pflichten
der Arbeiter, die man doch wahrlich nicht verkleinern sollte in einer Zeit, da
alle Staatsbürger in ihrer öffentlichen und privaten Thätigkeit einen größeren
Kreis von Pflichten zu bewältigen haben, als je zuvor, und gleichzeitig die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/514>, abgerufen am 06.02.2025.