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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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hören, liefen ihm zu und folgten ihm - - diesmal nicht in den Koppelberg,
sondern durch das Land des Franzmanns nach Algier, was schlimmer war,
da sie hier nicht die nur freudenlose Unterwelt, sondern -- was Vaterlands¬
verräthern gebührte -- eine vortrefflich geheizte Hölle mit allen möglichen
Qualen fanden.

Vermuthlich kommt er in einiger Zeit zum dritten Male, und für diesen
Fall wollte ich ihn -- die "Grünen Blätter" werden ja nicht blos in allen
fünf Erdtheilen, sondern auch in den Casinos und Conditoreien der Unter¬
welt aufliegen -- hiermit ersucht und eingeladen haben, dießmal seine Schritte
nach der Haupt- und Residenzstadt der Provinz zu lenken und ihr ein paar
Tausend welfisch gesinnte Seelen zu entführen, damit eine deutsche Stadt von
hundert und zwanzigtausend Einwohnern der Welt nicht noch einmal das
klägliche Schauspiel darbietet, im Reichstage durch einen E--Wald für sich
reden zu lassen.

Sollte der Rattenfänger dabei aus Versehen etliche von der Gegenpartei
mitnehmen, so würde mich das nicht gerade die Kleider zerreißen lassen; denn,
wie es unter den Welfischen einige recht angenehme Biedermänner giebt, so
befinden sich im andern Lager eine Anzahl recht unangenehmer Streber und
Gründer. Ueber die soll der Rattenfänger Gewalt haben. Nur darf er mir
davon nicht gar zu viele abholen -- natürlich nur von wegen der Wahlen.




Aer Socialismus und seine Körner.
(Heinrich von Treitschke's neueste Schrift.*)

Im letzten Herbst erschienen in den Preußischen Jahrbüchern, unter dem
Titel: "Der Socialismus und seine Gönner," zwei Abhandlungen Heinrich
von Treitschke's, welche ungewöhnliches Aufsehen erregten. Der erste dieser
Aufsätze widerlegte die emphatische Anklage des Kathedersocialismus gegen
die bestehende Gesellschaft, als beruhe die Herrschaft der begüterten und be¬
fähigten Minderheit auf einer tragischen Schuld gegen das Proletariat.
Treitschke wies vielmehr nach, daß jede denkbare Verfassung der bürgerlichen
Gesellschaft eine Klässenordnung ist, und alle socialen Reformpläne, welche die
Gliederung der Gesellschaft aufzuheben suchen, unausführbar bleiben, gleich¬
viel ob sie vom Katheder herab oder in der Volksversammlung oder auf der
Gasse ausgesprochen werden. Die zweite Abhandlung schilderte die social-



") (Der Socialismus und seine Gönner. Nebst einem Sendschreiben an Gustav Schmoller.
Berlin, Georg Reimer 1875.)

hören, liefen ihm zu und folgten ihm - - diesmal nicht in den Koppelberg,
sondern durch das Land des Franzmanns nach Algier, was schlimmer war,
da sie hier nicht die nur freudenlose Unterwelt, sondern — was Vaterlands¬
verräthern gebührte — eine vortrefflich geheizte Hölle mit allen möglichen
Qualen fanden.

Vermuthlich kommt er in einiger Zeit zum dritten Male, und für diesen
Fall wollte ich ihn — die „Grünen Blätter" werden ja nicht blos in allen
fünf Erdtheilen, sondern auch in den Casinos und Conditoreien der Unter¬
welt aufliegen — hiermit ersucht und eingeladen haben, dießmal seine Schritte
nach der Haupt- und Residenzstadt der Provinz zu lenken und ihr ein paar
Tausend welfisch gesinnte Seelen zu entführen, damit eine deutsche Stadt von
hundert und zwanzigtausend Einwohnern der Welt nicht noch einmal das
klägliche Schauspiel darbietet, im Reichstage durch einen E—Wald für sich
reden zu lassen.

Sollte der Rattenfänger dabei aus Versehen etliche von der Gegenpartei
mitnehmen, so würde mich das nicht gerade die Kleider zerreißen lassen; denn,
wie es unter den Welfischen einige recht angenehme Biedermänner giebt, so
befinden sich im andern Lager eine Anzahl recht unangenehmer Streber und
Gründer. Ueber die soll der Rattenfänger Gewalt haben. Nur darf er mir
davon nicht gar zu viele abholen — natürlich nur von wegen der Wahlen.




Aer Socialismus und seine Körner.
(Heinrich von Treitschke's neueste Schrift.*)

Im letzten Herbst erschienen in den Preußischen Jahrbüchern, unter dem
Titel: „Der Socialismus und seine Gönner," zwei Abhandlungen Heinrich
von Treitschke's, welche ungewöhnliches Aufsehen erregten. Der erste dieser
Aufsätze widerlegte die emphatische Anklage des Kathedersocialismus gegen
die bestehende Gesellschaft, als beruhe die Herrschaft der begüterten und be¬
fähigten Minderheit auf einer tragischen Schuld gegen das Proletariat.
Treitschke wies vielmehr nach, daß jede denkbare Verfassung der bürgerlichen
Gesellschaft eine Klässenordnung ist, und alle socialen Reformpläne, welche die
Gliederung der Gesellschaft aufzuheben suchen, unausführbar bleiben, gleich¬
viel ob sie vom Katheder herab oder in der Volksversammlung oder auf der
Gasse ausgesprochen werden. Die zweite Abhandlung schilderte die social-



") (Der Socialismus und seine Gönner. Nebst einem Sendschreiben an Gustav Schmoller.
Berlin, Georg Reimer 1875.)
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/510>, abgerufen am 06.02.2025.